Es ist ein Mammutprojekt, das die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen vorantreiben soll. Befunde, Entlassungsbriefe und Untersuchungsergebnisse, die sich zu Hause ansammeln, könnten damit in Zukunft Geschichte sein. Möglich macht das die elektronische Patientenakte (ePA). Dabei handelt es sich um eine digitale Anwendung, in der Versicherte ihre Daten speichern. So können sich Krankenkassen, Apotheken und Ärzte einen schnellen Überblick über die Gesundheit des Patienten machen.
Doch ganz so einfach, wie es klingt, gestaltet sich dieses Vorhaben nicht. Laut Detlef Haffke, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN), leidet vor allem eine Berufsgruppe unter dem Digitalisierungsprojekt: "Die Umstellung bringt Ärzte aktuell an ihre Belastungsgrenzen." Zur Nutzung der ePA müssen Arztpraxen nämlich an die Telematik-Infrastruktur (TI) angeschlossen sein – also ein Informations- und Kommunikationsnetz, zu dem nur Befugte aus dem Gesundheitswesen Zugang haben. "Sämtliche TI-Anwendungen funktionieren aber nicht so, wie sie sollen und es gibt noch viele Abstürze", sagt Haffke.
Mehr als bekannt sind diese Schwierigkeiten Lutz Banneitz von der Verdener Hausarztpraxis Nordertor. Ärzte benötigen ihm zufolge neuerdings einen Heilberufsausweis sowie diverse neue Kartengeräte. Die Einführung der ePA ziehe so zwar zum Teil rückerstattete, aber hohe Kosten mit sich. "Vieles ging außerdem erst nicht, weil die Sachen nicht geliefert wurden", sagt der Mediziner. Einige Software-Häuser seien auch gar nicht in der Lage, die benötigten Dienste zu bieten. Zusammengefasst: "Das Projekt steckt in den Kinderschuhen." Es sei vor allem ein großes Problem, die Umstellung mitten in der Pandemie anzugehen. "Ich arbeite teilweise 14 Stunden am Tag und habe keine Zeit, mich zusätzlich um solche Projekte zu kümmern", sagt der Hausarzt.
Zusätzlich ist für Kritiker fraglich, inwiefern der Datenschutz bei der ePA gewährleistet werden kann – schließlich enthält diese sensible Patientendaten. "Bei der elektronischen Patientenakte fehlt uns im Moment eine Menge Wissen und sie sorgt potenziell für große Datenschutzprobleme", kritisiert Lutz Banneitz.
Detlef Haffke von der KVN bestätigt: Genauso wie Unternehmen immer wieder gehackt würden, gebe es auch bei der TI keinen 100-prozentigen Schutz. Immer wieder würden durch Unternehmen und Organisationen Sicherheitslücken in dem System entdeckt. "Aber auch Arztbriefe per Post zu verschicken oder im Krankenhaus Gespräche über Patienten zu führen, ist nicht komplett sicher", räumt er ein. Dazu ist die ePA versichertengeführt, das bedeutet: "Der Patient hat eine gewisse Verantwortung und muss mitspielen." Theoretisch könnten daher auch wichtige Informationen in der Akte fehlen.
In der Praxis am Nordertor habe es seit vergangenem Sommer lediglich zwei Patienten gegeben, die die freiwillige Nutzung der ePA überhaupt in Erwägung gezogen hätten. "Der Bedarf der Patienten ist nicht so hoch, als dass es den großen Aufwand rechtfertigt", sagt Lutz Banneitz. Besonders im Verdener Bereich würden die verschiedenen Ärzte ohnehin eng zusammenarbeiten und sich absprechen. "Zusätzlich bekommen wir Briefe, dass unser Honorar gekürzt wird, wenn wir die Geräte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht installiert haben", sagt er. "Wertschätzung sieht anders aus."
Ein anderer Bestandteil der Digitalisierung ist die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die für Arztpraxen seit diesem Jahr Pflicht ist. Die Kritik der Ärzteschaft hat laut Detlef Haffke allerdings zumindest teilweise Früchte getragen, sodass einige andere Einführungstermine verschoben worden sind.
Elektronische Rezepte werden nicht genutzt
Betroffen davon ist zum Beispiel die dritte Komponente des bundesweiten Projekts: Die Umstellung auf das elektronische Rezept wurde aufgrund technischer Probleme auf unbestimmte Zeit verschoben. Gesetzlich Versicherte sollten künftig einen QR-Code erhalten, entweder per Smartphone oder ausgedruckt. Apotheken im Landkreis Verden haben zwar bereits vorsorglich aufgerüstet – doch die Resonanz hält sich in Grenzen. "Die nötige Software steht zwar bereit, aber bisher haben wir nach wie vor ausschließlich Papierrezepte bekommen", sagt Henning Wittboldt-Müller, Inhaber der Verdener Hirschapotheke. An dem Alter der Kunden könne es nicht liegen: Querbeet würden viele Menschen, darunter junge, ältere und Eltern für ihre Kinder Rezepte einlösen. "Prinzipiell ist die Digitalisierung im Gesundheitswesen ein guter Schritt und muss vorankommen, aber man muss es nicht übers Knie brechen", findet der Apotheker.
Ähnliche Erfahrungen hat Stefan Bürger, Inhaber der Alten Apotheke in Achim, gemacht. "Das E-Rezept findet nicht statt, die Leute kommen weiter mit Papier", sagt er. Lange habe sich sein Team gegen die benötigte TI gewehrt. Unausweichlich wurde der Schritt mit den elektronischen Impfzertifikaten. "Teilnehmen können nur Apotheken, die über diese Infrastruktur verfügen", sagt er. Mehrere Tausend Euro hätten die Neuerungen gekostet.
Den größten Vorteil generiere künftig der Versandhandel im Internet. Die Verzögerung, bis das Originalrezept ankomme, falle mit der Einführung des E-Rezepts schließlich weg. "Ich glaube nicht, dass die Umstellung uns stationäre Apotheken nach vorne bringt", sagt Bürger. "Stattdessen können wir nur verlieren."