Hell und freundlich wirkt der Speiseraum in den Berufsbildenden Schulen Verden. Die Tische sind zu einer großen Tafel zusammengestellt, an der jede der Schülerinnen einen Platz hat. Geschirr und Besteck sind genauso aufgedeckt wie frische Brötchen, Kaffee, Haselnusscreme, Käse, Schinken, Obst und was sonst noch alles zu einem ausgiebigen Frühstück gehört. Dass diese Mahlzeit bei den meisten Azubis jedoch nur wenig Begeisterung hervorruft, zeigt sich sofort. Denn bei diesem Frühstück sollen sich die angehenden Altenpflegerinnen in die Lage ihrer künftigen Patienten versetzen – mithilfe eines Alterssimulationsanzuges.
Für Ramona Reeg und Kathrin Friedrich ist schon das Anziehen des Anzuges eine Herausforderung, denn dieser besteht aus mehreren Teilen: eine zehn Kilogramm schwere Weste, eine Halskrause, Handschuhe, Kopfhörer, Gewichte an Armen und Beinen und eine Brille, die die Sehfähigkeit einschränkt. Beim Anlegen des Anzuges sind die beiden auf die Hilfe ihrer Mitschüler angewiesen. Selbst das Hinsetzen ist ein Kraftakt. Die Motorik der beiden jungen Frauen ist eingeschränkt.
„Es ist die erste Veranstaltung aus dieser Reihe“, erklärt Susanne Davids-Bremermann, die die Altenpflegeklasse betreut, die erst seit diesem Schuljahr angeboten wird. „Wir möchten den Schülern so nahebringen, mit welchen Einschränkungen die älteren Menschen zurecht kommen müssen. Das ist sinnvoll, damit sich die Schüler später im Beruf darauf einstellen können.“
Die erste Übung besteht darin, dass die angehenden Altenpflegerinnen ihren „Patienten“ das Essen anreichen. „Kauen Sie doch mal ein bisschen schneller. Ich muss mich noch um die anderen Bewohner kümmern“, fordert Sylke Schütze die kurzfristig gealterte Ramona Reeg immer wieder auf. Pia Wilts geht indes etwas feinfühliger mit ihrer „Patientin“ Kathrin Friedrichs um. Geduldig reicht sie nach und nach den Joghurt an, wischt den Mund ab und nimmt sich vor allem eines: Zeit.
Im zweiten Teil müssen die Frauen in den Altersanzügen selbstständig essen. „Das ist ganz schön anstrengend“, sagt Kathrin Friedrichs. Sie hat Schwierigkeiten, mit ihren Arm den Löffel auf Mundhöhe zu heben. Ein Teil des Obstjoghurts fällt ihr vom Löffel. Ramona Reeg hat ebenfalls mit den Tücken des rapiden Alterungsprozesses zu kämpfen. Auch ihr will es nicht gelingen, den Joghurt mit dem Löffel von der Schale in den Mund zu befördern. „Das Essen kann man ja gar nicht genießen“, sind sich Reeg und Friedrichs einig.
Daher ist es für die beiden Frauen eine Art Befreiungsschlag, als sie die Simulationsanzüge wieder ablegen dürfen. Für sie, aber auch für die anderen fünf angehenden Altenpfleger, ist das Frühstück eine völlig neue Erfahrung gewesen, wie sich im Anschluss während der Reflexion des Experimentes zeigt. Viele können jetzt erahnen, wie sich das Altsein anfühlt. Gleichsam sind ihnen jedoch auch die Schwierigkeiten bewusst geworden, mit denen sich Senioren auseinanderzusetzen haben. „Wir müssen die Lebensmittel bewusst wählen, die wir den Senioren servieren“, resümiert Kathrin Friedrichs. „Nicht, dass jemand aus Versehen die Plastikrinde vom Käse mit isst.“ Doch es gebe noch mehr, auf das die künftigen Altenpflegerinnen achten müssen: „Die Lichtverhältnisse sind wichtig, damit die älteren Menschen Kontraste erkennen und so Teller und Tisch unterscheiden können“, erklärt Davids-Bremermann. Sabine Scharringhausen, die als Lehrerin das Experiment ebenfalls begleitet, ergänzt: „Eine angenehme Atmosphäre ist wichtig. Hört den Menschen zu und seid aufmerksam.“
In den kommenden Tagen gibt es weitere solcher Lehreinheiten. „Wir werden üben, wie man die Nahrung richtig anreicht oder auch Tabletten unters Essen mischt“, erklärt Davids-Bremermann. „Wir wünschen uns, dass die Schüler diese Arbeitsweisen dann in ihren Einrichtungen übernehmen.“