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Amtsärztin im Gespräch "Wir alle haben uns durch Corona verändert"

Trotz oft milderer Krankheitsverläufe durch die Omikron-Variante warnt die Verdener Amtsärztin Jutta Dreyer davor, zu früh Maßnahmen zu lockern. Die Sorge vor überfüllten Kliniken ist weiter groß.
15.02.2022, 15:27 Uhr
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Von Felix Gutschmidt

Frau Dreyer, wann haben Sie in der Corona-Pandemie das erste Mal gedacht: Dieses Virus wird uns noch lange beschäftigen?

Der Gedanke kam mir Mitte März 2020 mit den Nachrichten und Bildern aus dem italienischen Bergamo: diese unglaublich vielen Todesfälle in der Region, die Bilder aus einem heillos überlasteten Klinikum und von Militärlastern, die Covid-19-Tote in Särgen in die Krematorien der Nachbarstädte brachten. Zu der Zeit waren im Landkreis Verden die ersten Corona-Fälle nachgewiesen worden.

Waren Sie als Amtsärztin in irgendeiner Form auf diese Zeit vorbereitet? Sind Strategien zur Bekämpfung einer Pandemie Teil der Ausbildung?

Als Amtsärztin bin ich natürlich im Rahmen meiner Weiterbildung zur Fachärztin für das Öffentliche Gesundheitswesen mit den Themen Infektionsschutz und biologische Gefahren inhaltlich vertraut. Ich habe Fortbildungen besucht und mit meinem Fachdienst ein Jahr vor Pandemiebeginn sogar noch eine größere Katastrophenschutzübung unter Beteiligung des Katastrophenschutzstabes des Landkreises und der Aller-Weser-Klinik zum Thema Grippe-Pandemie im Landkreis absolviert. Aber trotz aller Schulungen und Weiterbildungen hat die Corona-Pandemie Ausmaße angenommen, auf die wohl niemand wirklich vorbereitet sein konnte.

Beschreiben Sie Ihre Aufgaben in der Pandemie! Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?

Meine Aufgaben haben eine enorme Spannweite. Da sind Vorgaben für die Fallbearbeitung positiv getesteter Indexpatienten und ihrer Kontaktpersonen festzulegen, Abstimmungen mit dem Landesgesundheitsamt zu führen und die Vorgaben des RKI umzusetzen. Da gibt es immer wieder auch Einzelfälle und Beschwerden, um die ich mich kümmere. Der Personaleinsatz muss geplant, Personalgespräche müssen geführt und auch neues Personal gewonnen werden. Ich stimme mich mit der Verwaltungsleitung, der Pressestelle und Einrichtungen ab und beantworte Presseanfragen. Normalerweise fange ich um 7 Uhr mit einer kurzen Lagebesprechung mit den Gesundheitsaufsehern an. Um 12 Uhr folgt täglich ein Runder Tisch mit den hier beschäftigten ärztlichen Kolleginnen. Zwischen diesen Dingen versorge ich Klienten des Sozialpsychiatrischen Dienstes und begutachte Beamtinnen und Beamte zu bestimmten Fragestellungen.

Haben Sie eigentlich noch Zeit für andere Themen als Corona?

Die Zeit muss ich mir nehmen, da insbesondere die psychisch erkrankten Menschen im Landkreis Verden die Unterstützung des Sozialpsychiatrischen Dienstes benötigen. Neben der Gesamtleitung des Gesundheitsamtes habe ich als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie auch die Gruppenleitung für den Sozialpsychiatrischen Dienst. Und trotz Pandemie sind natürlich auch die anderen Themen, die ein Gesundheitsamt zu bearbeiten hat, nicht auf einmal verschwunden: Dazu zählen in meinem Fall unter anderem Fragen zur Dienstfähigkeit im Beamtenrecht, Reisefähigkeitsbeurteilungen und ärztliche Beurteilungen im Rahmen der Eingliederungshilfe. Nebenbei bin ich verantwortlich für die Facharztweiterbildung dreier junger ärztlicher Kolleginnen hier im Fachdienst zu Fachärztinnen für Öffentliches Gesundheitswesen.

Wie halten Sie sich auf dem Laufenden über das Coronavirus und seine unterschiedlichen Varianten, die Impfung und die diversen Schutzmaßnahmen?

Die wissenschaftlichen Informationen und Auswertungen des Robert-Koch-Institutes und des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes zählen sicherlich zu den zentralen Informationsquellen, daneben auch Veröffentlichungen im Deutschen Ärzteblatt und in Fachzeitschriften sowie Radio- und Fernsehbeiträge.

Inzidenz, Impfquote, R-Wert, Hospitalisierungsrate und, und, und: Welche statistischen Werte und Faktoren sind für Sie entscheidend zur Bewertung der Lage im Landkreis Verden?

Entscheidend für eine Bewertung der Lage ist die Hospitalisierungsrate. Hierbei ist der persönliche Austausch mit den Kliniken wichtig, um beispielsweise differenzieren zu können, ob eine Person wegen Corona in der Klinik ist oder ob der positive Test lediglich ein Zufallsbefund ist und die Person eigentlich wegen einer anderen Erkrankung das Krankenhaus aufgesucht hat. Ein weiterer wichtiger Indikator sind natürlich die Inzidenzen, insbesondere bei der Beratung von Schulen, Kindergärten und Pflegeeinrichtungen.

Wie schätzen Sie die derzeitige Situation in der Region ein?

Ich sehe die Gefahr einer zunehmenden Personalausdünnung durch Krankheitsausfälle in den kritischen Infrastrukturen, allen voran im Pflege- und Gesundheitsbereich. Trotz eines offenbar milderen Krankheitsverlaufs bleibt die Omikron-Variante für ältere und immungeschwächte Personen immer noch eine sehr große Gefahr, sodass ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht von Entwarnung sprechen kann.

Wie erleben Sie die Diskussion über den richtigen Umgang mit der Pandemie? Auf der einen Seite fordern bestimmte Gruppen, sämtliche Maßnahmen aufzuheben. Auf der anderen Seite wünschen sich einige einen besseren Schutz, insbesondere an Schulen und Kitas.

Ich kann die Anliegen beider Seiten nachvollziehen und habe in den letzten zwei Jahren unzählige Gespräche mit Menschen geführt, die zum Teil in derselben Sache vollkommen konträre Ansichten hatten. Ein typisches Beispiel ist die Diskussion mit Eltern von Schülerinnen und Schülern: Die einen wünschen sofortigen Distanzunterricht für die ganze Klasse, sobald nur ein Verdachtsfall auftritt, die anderen wünschen eine konsequente Fortsetzung des Präsenzunterrichtes im Sinne des schulischen Bildungsauftrages und um der eigenen Berufstätigkeit nachgehen zu können. Hier sind immer wieder Kompromisse auszuloten.

Was ist nach Ihrer Überzeugung der richtige Weg für die kommenden Wochen?

Wir sollten jetzt nicht zu früh mit den beschlossenen Maßnahmen nachlassen, da wir hierdurch derzeit gut eine Überbelegung der Kliniken verhindern können. Gerade in dieser Jahreszeit werden die Kliniken auch durch andere Infektionskrankheiten wie beispielsweise das Norovirus sehr belastet. Im Frühling nehmen diese Erkrankungen erfahrungsgemäß ab. Wir haben jetzt zwei Jahre Pandemie hinter uns, da werden wir sicher auch noch vier Wochen einen kühlen Kopf behalten können, um dann mit dem Beginn des besseren Wetters Lockerungen einleiten zu können.

Ist eine Rückkehr zur Normalität – also zu Verhältnissen wie vor Corona – überhaupt realistisch? Oder werden wir uns an bestimmte Dinge wie Masken in stark frequentierten Bereichen, anlassbezogenes Testen und regelmäßige Auffrischungsimpfungen gewöhnen müssen?

Wir alle haben uns durch Corona verändert, insbesondere haben alle sich ein Wissen über Hygiene und Infektionen angeeignet, wie es in dieser Form noch nie in der Bevölkerung bekannt war. Ich gehe daher davon aus, dass viele Menschen gerade Hygiene- und Abstandsregeln zum Beispiel beim Einkaufen für sich verinnerlicht haben und auch ohne Corona nicht mehr ablegen werden. Das Thema Maskentragen hat uns zudem gezeigt, dass sich dadurch auch andere Infekte wie beispielsweise Influenza verhindern lassen. Insofern kann ich mir gut vorstellen, dass viele Menschen zumindest in der Herbst-Wintersaison das Maskentragen im öffentlichen Bereich weiterhin als Schutz für sich nutzen werden.

Corona hat uns aber auch gezeigt, wie schnell ein kleines Virus die ganze Welt verändern kann. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und unserer weltweiten Vernetzung müssen wir auch künftig damit rechnen, dass uns weitere Pandemien anderer Erreger treffen können. Es wäre in meinen Augen sehr sinnvoll, ein effektives Monitoring des Infektionsgeschehens aufzubauen. So wird beispielsweise schon jetzt an verschiedenen Orten das Abwasser auf Bestandteile des Coronavirus überwacht. Infektionsgeschehnisse können so örtlich schnell erkannt werden, um schneller eingreifen zu können. Und noch etwas wurde durch das Coronavirus sehr deutlich: Es ist wichtig, dass Deutschland sich selbst hinsichtlich Forschung und Wissenschaft sowie der notwendigen Komponenten der Impfstoffherstellung breiter und unabhängiger aufstellt. So ist gewährleistet, dass wir bei einer neuen Pandemie schnell reagieren können, egal welcher Virus hier sein Unwesen treibt.

Zur Person

Jutta Dreyer leitet seit Mai 2016 das Gesundheitsamt im Landkreis Verden. Bereits seit 2001 arbeitet sie in der Kommunalverwaltung. Zuvor absolvierte die 52-Jährige ein Medizinstudium, Facharztausbildungen zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie zur Fachärztin für das Öffentliche Gesundheitswesen. 2006 erhielt sie die staatsärztliche Anerkennung zur Amtsärztin.

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