Der Anfang dieser wahren Geschichte klingt wie aus einem Märchen der Gebrüder Grimm. Petra Müller, Leiterin der Storchenstation in Verden, ist ein ganz gewöhnliches Mädchen, als sie irgendwann beschließt, Storchenfündlinge in ihre Obhut zu nehmen. Anlass dazu gibt ihr damals, genau 16 Jahre ist es her, Storchenpapa Helmut Storch, dem Namen nach klingend wie eine Märchenfigur. Doch Helmut Storch gab es wirklich.
„Herr Storch kam aus der entfernteren Verwandtschaft. Daher war der Kontakt zur Storchenstation in Verden schon immer gegeben“, erinnert sich Müller. Sie steht in der Storchenintensivstation vor dem Nest ihrer diesjährigen drei Zöglinge. Herr Storch und seine Störche – was so gut zusammen passt, wie Nils Holgerson zu seinen Gänsen, ist jedoch nicht aus der Feder der Grimmschen Brüder entstanden, sondern kam durch einen Witz, den sich Freunde von Helmut Storch in grauer Vorzeit mit ihm erlaubten. „Herr Storch hat aus Joke wegen seines Namens ein Storchenkücken geschenkt bekommen“, plaudert Müller aus dem Nähkästchen. Was als Joke angefangen ist, verdankt der Strochenstation seinen Sitz in Verden. „Helmut Storch errichtete damals die Storchenanlage in Verden und führte sie dann 44 Jahre lang“, weiß Müller.
Lang ist es her: Heute ist Petra Müller die Leiterin der Storchenstation. Dort leben in diesem Jahr „die drei von der Tankstelle“, wie sie ihre diesjährigen kleinen Zöglinge nennt. Müller klärt auf: „Das sind zwei Storchen-Schwestern aus Fischerhude und ein männlicher Storch aus Blender.“ Die drei wurden aus ihren Nestern geholt, als sich abzeichnete, dass ihre Eltern sie bald verstoßen würden. Das ist dann der Fall, wenn ihre Eltern nicht genug Futter für all ihre Jungen finden. „Und anders als bei uns Menschen pflegen die Störche die schwächsten der Familie nicht mehr, sondern schmeißen sie bei Zeit aus ihren Nestern“, erklärt Müller. Und so hat Müller die drei Wochen alten Sorgenkinder in ihre Obhut genommen.
Und so intensiv die Beziehung von Petra Müller auch zu ihnen ist, einen Namen gibt sie ihnen nicht. Schließlich muss sie sie auch wieder gehen lassen. „Nur meinen ersten Storch habe ich vor 16 Jahren getauft“, schwelgt Müller in Erinnerungen. Das war damals ein Mädchen. Bei Storchen heißen, genauso wie bei Hühnern, die weiblichen Exemplare übrigens Henne. „Und die lebt mittlerweile als Bruthenne in der Wedemark“, sagt Müller stolz. Ihre erste Storcherfahrung war damals aber alles andere als einfach. „Die Henne und ich – wir mussten zusehen, dass wir beide am Leben bleiben“, offenbart Petra Müller. Denn die heute erfahrene Storchenmama hatte damals noch keine Ahnung, wie viel Arbeit die Störche bedeuten. Fünf Mal am Tag müssen die Kleinen gefüttert werden, und auch sonst brauchen sie viel Pflege. Ihre Schützlinge verdrücken sogenannte Futter-Kücken. Müller zerkleinert diese in essbare Portionen und schneidet ihnen die Gliedmaßen ab. Eine Aufgabe, die offensichtlich nichts für Zartbesaitete ist. Petra Müller kann daher auch verstehen, dass ihre Tochter und ihre Schwiegertochter das Essen für die Störche nicht zubereiten wollen. Im Gegensatz zu ihrem zehn Jahre alten Enkel. „Der macht das schon, seitdem er vier ist und ist dann wirklich bis zu den Ärmeln voll mit Dottersaft“, sagt Müller lachend. Doch, was für die einen ziemlich klebrige Arbeit bedeutet, ist für die anderen lediglich liebevolle Schmuserei. Denn in jedem Jahr bekommen die Storche einen Paten. Die Person darf ihr Patenkind fast jederzeit besuchen, bekommt ein Foto von ihm und eine Urkunde über die Patenschaft. Zudem erhalten die Paten die Ringnummer ihres Storchs, sodass sie nachvollziehen können, auf welchem Rastplatz er später Halt macht. All das ist für 50 Euro zu haben. Und es braucht zusätzlich etwas Glück, da die Patenschaft ausgelost wird. „Auf der Arbeit wurde ich schon angesprochen, ob nicht die Enkeltochter Patin sein darf“, erzählt Petra Müller. Solche Anfrage weise sie aber ab. „Es muss ja fair bleiben“, so die Verdenerin.
Der Abnabelungsprozess fällt vielen Paten nach einer intensiven Storchenzeit aber sichtlich schwer, weiß Müller. Viele möchten nicht, dass „ihr Storch“ wegfliegt. Ende Juli stehe die Auswilderung jedoch spätestens an. „Denn nur durch einen gesunden Abstand zum Menschen sind die Störche später dazu in der Lage zu überleben“, betont Müller.
Ende August ist es soweit: Dann ziehen die Vögel gen Süden, ohne einen Blick zurück auf das beschauliche Verden zu werfen. Dass die jungen Störche den Flug nach Afrika dann auch überstehen, dafür sorgt Müller. 100 Futterkücken am Tag hat sie innerhalb der vergangenen Wochen an ihre Sorgenkinder verfüttert. Wobei die Aufregung jedes Mal groß ist: Denn während „die drei von der Tankstelle“ erst noch verschlafen und geräuschlos sind, ist, sobald die Fütterung ansteht, das Getöse und Geschnatter der Störche groß. Sie flattern aufgeregt mit den Flügeln und klackern gierig mit ihren Schnäbeln. „Das sind die reinsten Showmaster“, sagt Petra Müller treffend. Und streichelt bei diesen Worten liebevoll den Kopf ihrer Jungen.