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Aufführung im Domgymnasium Jüdische Schicksale in szenischer Lesung

Die Bremer Shakespeare Company gab kürzlich eine szenische Lesung im Domgymnasium Verden. Das Stück "Keine Zuflucht. Nirgends." thematisiert die Irrfahrt der MS St. Louis und ihrer jüdischen Passagiere.
21.10.2021, 15:57 Uhr
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Von Susanne Ehrlich

Ein Schiff irrt auf dem Meer umher. Auf ihm fast tausend Flüchtlinge; Männer, Frauen und Kinder, deren Leben in ihrem Heimatland bedroht, deren Existenz bereits vernichtet ist. Sie hoffen auf Zuflucht, auf einen Neuanfang in Sicherheit und Freiheit. Doch in keinem Hafen erhalten sie Landeerlaubnis, kein Land ist bereit, sie aufzunehmen und zu retten.

Dies klingt nach einer aktuellen Geschichte, geschehen solche Szenen doch nahezu tagtäglich auf den Weltmeeren. Doch die szenische Lesung der Bremer Shakespeare Company mit dem Titel "Keine Zuflucht. Nirgends." handelt von der Irrfahrt der MS St. Louis, mit der 937 jüdische Bürger aus einem Leben fliehen wollten, das von den sadistischen Übergriffen der Nationalsozialisten und von der Aussicht auf den Tod geprägt war.

Auf Einladung des Doz 20 (Dokumentationszentrum Verden im 20. Jahrhundert) lasen Peter Lüchinger, Simon Elias, Michael Meyer, Petra-Janina Schultz und Erika Spalke im Verdener Domgymnasium aus historischen Dokumenten, die im Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bre­men gesammelt und unter der Regie von Peter Lüchinger für die Lesung zusammengestellt worden waren.

Aus der Fülle der Dokumente sprachen verzweifelte und gedemütigte jüdische Familien, hämische nationalsozialistische Funktionäre, ein couragierter, doch letztlich hilfloser Kapitän, skrupellos berechnende Staatsmänner. Jüdische Augenzeugen schilderten ihr Entsetzen über die Brutalität der Reichspogromnacht im November 1938 sowie den "Anschluss Österreichs", der ihr bisheriges Leben auf einen Schlag auslöschte. Kritische Pressestimmen aus aller Welt wurden gehässigen Kommentaren des "Völkischen Beobachters" gegenübergestellt; der Zynismus der Nürnberger Gesetze wurde in den Begründungen des Gesetzgebers aufgeblättert. 

Konferenz von Évian

Doch noch viel mehr stach bei dieser Lesung das Elend der Konferenz von Évian ins Herz. Dort berieten im Juli 1938 auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt die Vertreter von 32 Staaten und 24 Hilfsorganisationen über das Problem deutscher und österreichischer jüdischer Flüchtlinge. Nachdem alle teilnehmenden Staaten zuerst ihre Hilfsbereitschaft und ethische Verpflichtung beteuert hatten, breitete jedes einzelne Land seine nationalen Befindlichkeiten und Sachzwänge aus, und den Zuhörern klingelten die Ohren. Großbritannien, Frankreich und die USA waren ängstlich bemüht, "nichts zu tun, was Hitler verärgern könnte"; da hatte Australien "derzeit kein echtes Rassenproblem und will auch keines importieren"; der holländische Vertreter wies auf die "besondere Bevölkerungsdichte und hohe Arbeitslosigkeit" hin und eine Reihe weitere Länder erklärte das eigene Kontingent für längst übererfüllt; da protestierte das arabische Komitee gegen "weitere jüdische Einwanderer nach Palästina".

So fesselnd und aufrüttelnd die Lesung war, so anstrengend war es, die unzähligen Fakten, Stellungnahmen und Bestimmungen aufzunehmen; immer wieder Zeitsprünge, wiederholt die Gegenüberstellung entgegengesetzter Standpunkte und Sichtweisen. Der Verdener Andreas Müller zeigte sich in der Pause dennoch beeindruckt: "Ich glaube, dass derartige Lesungen sehr wichtig sind, um die Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und die Verantwortung für die Gegenwart besser zu begreifen."

Kurs auf Havanna

Im Mai 1939, zehn Monate nach Évian, begann die Irrfahrt der MS St. Louis mit Kurs auf Havanna. Obwohl alle 937 Männer, Frauen und Kinder gültige Einreisepapiere hatten, verweigerte ihnen Federico Laredo Brú, damaliger Präsident der Republik Kuba, die Landeerlaubnis. Zuvor hatte er in Windeseile die Einreisebestimmungen für sein Land gerändert. Auch der um Hilfe in der Not gebetene US-Präsident Roosevelt, der auf der Konferenz die Worte "weniger reden, mehr tun" gesprochen hatte, verweigerte den Flüchtlingen die Einreise. Die Irrfahrt, nur eine von vielen dieser Art, endete in Europa. Großbritannien, Frankreich, Holland und Belgien nahmen die verzweifelten Menschen letztlich auf. Vier Monate später begann der Zweite Weltkrieg; ein Jahr später waren drei der vier Länder besetzt und "judenfrei" gemacht. Zum Abschluss der Lesung wurden die Namen deportierter Kinder und früher Passagiere der MS St. Louis verlesen, die in Auschwitz den Tod gefunden hatten.

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