In seinem letzten Jahr als Domkantor wollte er noch einmal alle Register ziehen: Mit vielen besonderen Sommerkonzert-Highlights inklusive dem großen Vierne-Zyklus, einem hochkarätigen Programm zu den Trauer-Sonntagen im Herbst, dem Weihnachtsoratorium und schließlich einem fulminanten Abschied mit Mendelssohns Elias hatte Tillmann Benfer einen eindrucksvollen Endspurt geplant. Doch wieder kam alles ganz anders.
Als es nach der langen Corona-Pause der Domchöre im Sommer wieder richtig losgehen sollte, kam ein Hindernis aus ganz unerwarteter Ecke: Anfang Juli stürzte Benfer auf der Orgelempore und zog sich einen komplizierten Trümmerbruch des Schienbeinkopfes zu. Ganze vier Monate war er danach buchstäblich lahmgelegt: "In den ersten neun Wochen konnte ich nicht einmal an meinen Schreibtisch gehen. Ich kam nicht die Treppe hinauf." Auch abgesehen davon, dass ein Bruch der Tibia äußerst schmerzhaft ist, war das eine schwere Zeit: "Ich musste viele Dinge liegen lassen. Und das ausgerechnet, als wir gerade alle Musikprojekte neu in Angriff genommen hatten."
Viele Aufgaben
Bei der Organisation der Kirchenmusik gab es viele Aufgaben, die Benfer nicht so einfach delegieren konnte. "Nachdem es mir etwas besser ging, habe ich sehr viel telefoniert und war deshalb nicht vollständig außen vor." Dann kam die Reha, und danach wurde es fast noch schwieriger: "Ich durfte ja immer noch nicht viel machen, obwohl ich mich eigentlich gar nicht krank fühlte. Ich konnte einfach nur nicht laufen."
Seit knapp drei Wochen ist Benfer wieder im Dienst. "Das fühlt sich gut an, eigentlich könnte ich wieder voll durchstarten. Und jetzt, wo alles wieder geht, geht wahrscheinlich bald gar nichts mehr." Besonders bitter: Auch das Weihnachtsoratorium, das der Domchor gemeinsam mit dem Kammerchor des Domgymnasiums einstudiert, muss wohl ausfallen. "Eigentlich sollte man das nicht riskieren. Wenn man sich zum Beispiel den Fußball anschaut, kann man es kaum fassen, dass dort immer wieder ein so hohes Risiko eingegangen wird. Und da möchte ich mich nicht einreihen."
Auch den Gemeindegesang wird es in der Adventszeit im Dom nicht geben. "Aber wir werden viel Orgelmusik haben", so Benfer, "und die Bläser werden wie im vergangenen Jahr im Dom-Innenhof musizieren". Für Benfer kommt es dabei nicht nur darauf an, was vielleicht zurzeit noch erlaubt ist. "Natürlich ist es ein Jammer. Aber mit Kontaktvermeidung ist man immer auf der richtigen Seite." Und ganz gleich wie man entscheide, es werde immer Menschen geben, die mit der Entscheidung nicht gut leben könnten.
"Das Weihnachtsoratorium läuft nicht weg, und deshalb sind auch die Vorbereitungen nicht umsonst." Natürlich sehe er die Enttäuschung derer, die sich so lange darauf vorbereitet hätten. "Aber in der derzeitigen Konstellation wäre es einfach unvernünftig". Dennoch ist es auch für ihn schwer, diese trostlose Pandemiezeit richtig zu begreifen. "Man möchte mal viele Jahre später auf diese Zeit zurückblicken", sinniert der Domkantor. "Was wird davon bleiben?"
Letztes Chorprojekt im Mai
Trösten können sich alle Enttäuschten damit, dass das letzte große Chorprojekt mit dem scheidenden Kirchenmusikdirektor (KMD) sicher stattfinden wird, weil es erst für Mai 2022 geplant ist. "Wir haben schon ein bisschen mit den Proben zu 'Elias' angefangen", erzählt Benfer. "Das ist nämlich ein Riesenpensum. Der Chor hat darin 21 Nummern zu singen, das ist sehr viel mehr als in anderen Oratorien dieser Art." Außerdem wird es zu Pfingsten einen großen Jazzgottesdienst im Zuge der Weser-Festspiele geben, und eine Bachkantate zum Mitsingen ist für den Mai geplant.
Die Sommerkonzerte, dieses besondere Format, das über drei Jahrzehnte so viele Menschen nach Feierabend in den Dom lockte, sind bis Ende Juni fertig geplant. "Das war immer schön, wenn es im Mai losging", sagt Benfer, der bis auf wenige Ausnahmen bei jedem einzelnen Donnerstagskonzert präsent war. Und lachend ergänzt er: "Im September war es dann immer sehr entspannt für mich, wenn sie beendet waren, und der Tag wieder frei für andere Dinge war."
Keine Vakanzphase
Für den Dom wird es keine Vakanzphase geben, nahtlos übernimmt am 1. Juli 2022 der neue KMD Robert Selinger. Und dass die Sommerkonzerte weiter laufen werden, ist mit ihm bereits fest verabredet. In regelmäßigen Videokonferenzen planen die beiden Kirchenmusiker eine geregelte Übergabe. Für Benfer wird fortan bei allem, was er tut, viele letzte Male geben. "Dabei hilft das Gefühl: Ich bin nicht unersetzlich. Und es ist gut, wenn jetzt die jüngere Generation übernimmt und neue Impulse bringt. Das habe ich damals ja genauso gemacht." Als Tillmann Benfer im Jahr 1990 sein Amt als Domkantor übernahm, war er exakt so alt, wie sein Nachfolger Robert Selinger es heute ist.
Da Benfer an seinem Wohnort bleibt, wird man ihn auch in Zukunft im Dom treffen: "Vielleicht setze ich mich ja mit meiner Trompete zu den Bläsern, dazu hätte ich große Lust." Im Juni wird Benfer sein großes Abschiedskonzert an der Orgel geben. Seine letzten musikalischen Grüße an die Gemeinde sollen mit Max Regers Choralfantasie op. 52/3 heißen: "Halleluja! Gott zu loben".