Die Stolpersteine erstrahlen in neuem Glanz, die Flaggen wehen auf halbmast: Am 27. Januar wurde weltweit der Opfer des Holocaust gedacht. Am Mahnmal an der Ritterstraße in Verden legten Bürgermeister Lutz Brockmann sowie Schülerinnen und Schüler des Domgymnasiums zu diesem Anlass weiße Rosen nieder. Die Abiturienten hatten sich zuvor im Geschichtsunterricht mit dem Schicksal jüdischer Menschen aus Verden befasst und gaben Einblick in deren Biografien.
Der 27. Januar ist nicht beliebig gewählt. Es ist das Datum, an dem im Jahr 1945 sowjetische Soldaten das Vernichtungslager Auschwitz befreiten, in dem auch Menschen aus dem Landkreis Verden ermordet worden waren. Seit 1996 gilt der 27. Januar in Deutschland offiziell als Tag des Gedenkens. International wird seit 2009 an die Opfer des Naziterrors erinnert.
"Unermessliches Leid" habe der Nationalsozialismus gebracht, sagte Verdens Bürgermeister Lutz Brockmann bei der Feierstunde. Es sei wichtig, daran zu gedenken. Daher freue er sich auch über das Engagement der zehnten Klasse, die für das Treffen einige Worte vorbereitet hatte.
Richtige Worte finden
"Es ist uns nicht leicht gefallen, die richtigen Worte zu finden", leitete Charlotte Göing die Textbeiträge ein. Gemeinsam mit Sanja Horenkohl hatte sie die Geschichte von Johanna Pichet aufgearbeitet. Eine Woche lang hatten sich die Zehntklässlerinnen mit dem Lebenslauf der Frau befasst, an die an der Straße Am Bürgerpark 5 ein Stolperstein erinnert. Pichet, Jahrgang 1872, hatte jüdische Vorfahren, war allerdings zum Katholizismus übergetreten, erzog auch ihre Kinder im katholischen Glauben. Auf der Liste der jüdischen Einwohner Verdens wurde sie nicht aufgeführt und auch die Synagogengemeinde zählte sie nicht als Mitglied. Dennoch wurde sie, als die Nazis auf ihre Herkunft aufmerksam wurden, dazu gezwungen, wie andere Jüdinnen den Namen Sara zu tragen. Ihre Söhne Alfons und Felix, die in der Nazi-Terminologie plötzlich als Halbjuden galten, wurden aus der Wehrmacht entlassen. Alfons kam bei einem Bombenangriff ums Leben, Felix wurde erschossen. Die Töchter Irma und Erika überlebten den Krieg.
Auch Pichet überlebte. Drei Jahre verbrachte sie im Konzentrationslager Theresienstadt. Nach Kriegsende begann sie ihren Kampf um Entschädigung. Sie erhielt unter anderem ihr Haus und ihr Grundstück zurück. 1954 starb sie im Alter von 82 Jahren.
Bo Schröder und Philipp Heimsoth haben sich mit dem Schicksal von Minna und Harry Herzberg beschäftigt. Harry Herzberg war Viehhändler, bis die Nazis ihm seine Tätigkeit verboten. 1938 musste das kinderlose Paar seine Wohnung verlassen und in das sogenannte "Judenhaus" an der Predigerstraße ziehen, zwei Jahre später wurden sie nach Minsk deportiert. Als ihr Todesdatum gilt der 28.07.1942, der Tag, an dem
die Massenexekutionen in den Kiesgruben bei Minsk begannen.
Stadtarchiv stellte Dokumente zur Verfügung
Für ihre Recherche habe ihnen das Stadtarchiv Originaldokumente zur Verfügung gestellt, erzählte Sanja Horenkohl. Die Lebensläufe zu verfolgen, sei "sehr erschreckend" gewesen, ergänzte Philipp Heimsoth. Das Geschehen habe sich plötzlich sehr nah angefühlt. Pichet habe nur wenige Straßen von ihrem Zuhause entfernt gewohnt, machte Horenkohl deutlich.
"Unsere Geschichte zeigt, wie eine zunehmende politische Radikalisierung eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft ins Wanken bringen kann", mahnte Brockmann. Möglich geworden sei das Nazi-Regime durch die nachlassende aktive Unterstützung aus der Mitte der Gesellschaft. Umso wichtiger sei es auch heute, in einer Zeit, in der Antisemitismus, Verschwörungstheorien sowie Drohungen gegen gewählte Volksvertreter zunehmen, für die Demokratie einzutreten. "Demokratie ist kein Naturgesetz", gab der Bürgermeister abschließend den Schülerinnen und Schülern mit auf den Weg. Jede Generation müsse aufs Neue Demokratie und Menschenrechte mit Leben und Engagement füllen.