Bei der Premiere mit dem Auftakt eines Prozesses gegen organisierte „Planenschlitzer“ ließ sich noch nicht absehen, wie lange das Landgericht die Stadthalle als geräumige Dependance nutzen würde. Was Anfang Mai 2020 zunächst für ein halbes Jahr geplant gewesen war, allerdings schon mit der Option auf Fortsetzung, geht nun erneut in die Verlängerung. Gerade wurden die Weichen dafür gestellt, dass auf dem Corona-bedingt reduzierten Programm des multifunktionalen Veranstaltungshauses am Holzmarkt auch künftig noch Gerichtsverhandlungen stehen werden, vor allem Strafsachen mit vielen Verfahrensbeteiligten.
Das Niedersächsische Justizministerium habe jetzt die Genehmigung für die Anmietung bis Ende Dezember gegeben, teilte der Pressesprecher des Landgerichts, Rouven Seeberg, auf Nachfrage mit. Entsprechende Gespräche mit der Stadthallen-Gesellschaft hätten bereits stattgefunden. Bei der bewährten Kooperation sei seitens des Gerichts selbstverständlich nach wie vor auf die Belange der Stadthalle Rücksicht zu nehmen, so Seeberg. Zuletzt bestand eine Nutzungsvereinbarung für drei Tage pro Woche bis Ablauf des Monats Oktober.
Zwei Strafkammern profitieren besonders
Dass es im willkommenen Ausweichquartier, unweit des Justizzentrums am Johanniswall, vorerst weitergehen kann, kommt besonders zwei großen Strafkammern sehr gelegen. Sie sind seit geraumer Zeit mit umfangreichen Verfahren befasst, die bei jedem Termin die Anwesenheit zahlreicher Beteiligter erfordern. Auch im größten Saal des Landgerichts, der im Vergleich zu den übrigen reichlich dimensioniert ist, kann es angesichts der gegebenen Abstandsregeln knapp werden mit den ausreichend separierten Sitzgelegenheiten. Dies gilt nicht zuletzt für den durch eine hohe Glaswand abgetrennten Zuschauerbereich mit limitierter Platzkapazität, der einen eigenen Zugangsbereich hat.
Einige Male musste mittlerweile aus organisatorischen Gründen, auch notgedrungen im Fall „Weserleiche“, im sogenannten Schwurgerichtssaal verhandelt werden. Zwei Männern und einer Frau aus Nienburg werden Mord und Menschenhandel zur Last gelegt. Der 41-jährige Hauptangeklagte, seine ein Jahr jüngere Lebensgefährtin (und Ex-Ehefrau) sowie ein 54 Jahre alter Bekannter des Paares sollen für den Tod einer 19-Jährigen aus dem Kreis Helmstedt verantwortlich sein. Die an eine Waschbetonplatte gefesselte Leiche der psychisch kranken zweifachen Mutter war am 28. April 2020 in Balge aus dem Schleusenkanal der Weser geborgen worden.
Zahlreiche Zeugen und Sachverständige sind bereits ausgiebig vernommen worden – während die in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten nach wie vor von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen. Ein psychiatrischer Sachverständiger hat bei allen dreien keine Anhaltspunkte für eingeschränkte oder gar aufgehobene Schuldfähigkeit ausmachen können. Die 1. große Strafkammer hat kürzlich erklärt, sie sei mit ihrem Beweisprogramm am Ende. Bleibt abzuwarten, was die Verteidiger möglicherweise noch vorzubringen haben. Der Zeitplan sieht für den auch überregional aufsehenerregenden Prozess bislang noch sechs Fortsetzungstermine bis weit in den Oktober hinein vor, die dann in der Stadthalle stattfinden können.
Sogar bis in den Dezember reicht der Terminplan, den die 2. große Strafkammer vorsorglich erstellt hat, um einen wahren Mammutprozess abzuwickeln, der in der Stadthalle stets unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen stattfindet und viel Wachpersonal erfordert. Er hat am 24. November vergangenen Jahres begonnen und ist derzeit der längste, der am Landgericht Verden noch läuft. Angeklagt sind fünf Männer aus dem Heidekreis, die meisten mutmaßlich Mitglieder einer Motorradgang, die in unterschiedlicher Konstellation 17 Einbruchsdiebstähle sowie zwei Raubtaten verübt haben sollen.
Von acht Verteidigern flankiert
Unweit der Stätte, an der ihnen der Prozess gemacht wird, sollen sie auch einen Einbruchsversuch unternommen haben: In das Möbelgeschäft an der Husarenstraße gelangten sie aber gar nicht erst hinein. Beim Prozess in der weitläufigen Stadthalle mit der grau verhängten Bühne hocken sie an schlichten Tischen und werden von insgesamt acht Verteidigern flankiert. Die Anwälte hatten vor allem in den ersten Wochen nichts unversucht gelassen, um zumindest eine Aussetzung des Verfahrens zu erreichen. Ihre Begründungen für immer neue Anträge kreisten zumeist um Corona, beinhalteten unter anderem Kritik an der Hygieneschutzverordnung des Landgerichts sowie Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Lüftungsanlage vor Ort. Den erhofften Erfolg hatten die mitunter vollmundig vorgetragenen Begehren jedoch nicht.
Inzwischen kommt es nur noch selten vor, dass sich Passanten auf dem Weg zum Einkaufscenter, zur Tiefgarage oder anderen Einrichtungen auf dem Holzmarktgelände über uniformierte Justizbeamte vor dem Halleneingang wundern. Dass hier manchmal auch tagsüber Betrieb herrscht und welcher Art dieser ist, scheint sich herumgesprochen zu haben. Es ist nicht das einzige Ausweichquartier, das die Verdener Justiz derzeit unterhält. Nicht nur die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass sich der Tätigkeitsbereich noch auf weitere Stationen erstreckt.
Weitere Zweigstellen
Auch dringende Sanierungen am in die Jahre gekommenen Gebäudekomplexes haben entlang des Walls zusätzliche Unterkünfte erfordert. Verhandlungen in Zivilsachen finden gelegentlich auch im Arbeitsgericht an der Bürgermeister-Münchmeyer-Straße statt, zudem haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Zivilkammern ihre Büros im Hause des Landessozialamtes an der Marienstraße. Strafrichterinnen und -richter haben dagegen innerhalb des alten Trakts neue Arbeitsräume bezogen, die nach eingehender Renovierung vor allem in der ehemaligen Hausmeisterwohnung entstanden sind.
Und die Verwaltungsabteilung mit Landgerichtspräsident Gerhard Otto an der Spitze ist bekanntlich seit Jahresbeginn in der schmucken weißen Stadtvilla an der Ecke Lindhooper Straße/ Johanniswall ansässig. Wo über Jahrzehnte eine Arztpraxis angesiedelt war, gibt es inzwischen übrigens auch eine offizielle Corona-Teststation.