Rund 1400 deutsche Synagogen gingen vom 9. auf den 10. November 1938 in Flammen auf. Die nationalsozialistische Judenverfolgung erreichte in der Reichspogromnacht neue Dimensionen. Auch das 1858 erbaute Gotteshaus der kleinen jüdischen Gemeinde am Johanniswall fiel der mutwilligen Zerstörung zum Opfer. Mit der späteren strafrechtlichen Aufarbeitung und Ahndung tat sich die Justiz der jungen Bundesrepublik schwer. Dies zeigt auch der Anfang 1948 geführte Prozess, der jetzt bei einer szenischen Lesung im großen Saal des Verdener Landgerichts, dem Originalschauplatz, nachzuvollziehen war.
Eingeladen hatte dazu das Verdener Dokumentationszentrum (Doz 20). Neu ist der Text nicht: Die Geschichtswerkstatt Verden hat ihn bereits 1988 anlässlich des 50. Jahrestages des Pogroms sowie 1997 während einer Begegnungswoche mit ehemaligen jüdischen Bürgern öffentlich zu Gehör gebracht. Ergänzt wurde der Text allerdings um einige Namen. Darunter der Name des Mannes, gegen den die Oberstaatsanwaltschaft im Juli 1947 Anklage erhoben hatte. Der zeitliche Abstand mache eine Anonymisierung aus heutiger Sicht überflüssig, erklärte Kathrein Goldbach vom Doz 20 in ihrer Einleitung.
Das Anliegen sei, wie schon das der Geschichtswerkstatt, deutlich zu machen, „was passieren kann, wenn Macht ohne kritische Vernunft und ohne humane Maßstäbe missbraucht wird“. Den Schwerpunkt der einstündigen Lesung mit verteilten Rollen bildeten die Angaben diverser Zeugen im Prozess, etwa eines Lehrers und seinerzeitigen NS-Funktionärs, früherer Feuerwehrmitglieder und Männern, die der Sturmabteilung (SA) angehörten. Was wussten sie noch über die ganzen Geschehnisse? An Widersprüchen und Gedächtnislücken mangelte es zumindest nicht.
Ereignisse in Erinnerung rufen
Zur Intention des Dokumentationszentrums betonte Kathrein Goldbach auch: „In einer Zeit zunehmender antisemitischer Gewalttaten erscheint es uns dringlich angebracht, die damaligen Ereignisse wieder in Erinnerung zu rufen.“ Quellen des dargebotenen Textes sind vorwiegend Unterlagen zum Prozess aus dem Staatsarchiv Stade.
Vor und nach den insgesamt elf Zeugenaussagen, einige zwecks Verständnisses und korrekter Einordnung kurz kommentiert, kam der Staatsanwalt zu Wort. Diesen Part nahm bei der Lesung ein amtierender Richter ein: Stefan Koch, Vizepräsident des Landgerichts Verden, verstärkte das Team der Vortragenden des Doz 20 und trug zum Auftakt vor: "Der Handwerksmeister und Feuerwehrhauptmann Johann Hagemann wird angeklagt, zu Verden am 10. November 1938 die jüdische Synagoge vorsätzlich in Brand gesetzt zu haben, indem er als Brandmeister der Stadt Verden das von anderen, nicht ermittelten Tätern, angelegte Feuer nicht nur nicht bekämpfen ließ, sondern durch seine Tätigkeit erst so in Gang brachte, dass das Gebäude zerstört wurde."
Die Anklage datierte vom 29. Juli 1947. Bis zum mehrtägigen Prozess sollte noch ein halbes Jahr vergehen – und Hagemann sich der Verhaftung und Verhandlung durch Flucht entziehen. Zu den Ermittlungen erläuterte der Staatsanwalt unter anderem, es habe sich nicht feststellen lassen, dass Einheiten der Verdener SA an den Ausschreitungen an jenem Tag beteiligt gewesen seien. Vielmehr müsse angenommen werden, dass SS-Männer von auswärts die Gewalttaten ausgeführt hätten. Sehr wahrscheinlich sei dafür von der SA-Gruppe Nordsee in Bremen die SA-Führungsschule in Etelsen eingesetzt worden.
Verschiedene Zeugenaussagen
Ein Zitat eines als Zeuge vernommenen Polizeibeamten, der im Rathaus saß, lautete: "Kurz vor Mitternacht erhielt ich einen Anruf, dass in der Nacht eine Aktion gegen die Juden gestartet würde und dagegen nicht einzuschreiten sei. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, von wem dieser Anruf erfolgte. Es kann von der Gaustelle Lüneburg oder von der Gestapo Verden gewesen sein." Ein Ex-Feuerwehrmann sagte zur Situation in der Synagoge: "Es wurde mir jedes Mal wieder erklärt, ich solle nicht das Feuer bekämpfen, sondern an eine andere Stelle spritzen." Ein einstiger Kollege äußerte sich folgendermaßen: "Diesen Herren schien das Werk der Zerstörung noch nicht vollendet zu sein. Jedenfalls wurde vom Nachbargrundstück über die Mauer Benzin beziehungsweise schmutziges Öl herangeschafft."
Über den Ausgang des Prozesses zu berichten war wieder dem Staatsanwalt vorbehalten. Am 3. Februar 1948 wurde der Angeklagte auf Kosten der Reichskasse freigesprochen. Das Gericht sah es zwar als erwiesen an, dass er Beihilfe zur Brandstiftung geleistet habe, entschuldigte diesen Tatbestand aber damit, „dass der Leiter der Feuerwehr durch hiesige Gestapobeamte und den Landrat Dr. Weber genötigt worden war, die Löscharbeiten einzustellen“. Man folgte dabei den Einlassungen Hagemanns im Ermittlungsverfahren, wonach der Landrat ihn „in der Brandnacht mit den Worten an die Brust gepackt“ habe: "Menschenskind, wenn Sie irgendetwas unternehmen, werden Sie abgeführt. Der Tempel bleibt brennen. Wir haben uns verstanden." Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Revision ein – vergeblich: "Der Oberste Gerichtshof in der Britischen Zone bestätigte den Freispruch."