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Neuer Kirchenmusikdirektor "Ich bin nicht der sentimentale Typ"

Verdens designierter Domkantor Robert Seliger spricht über seinen professionellen Anspruch, über Traditionen und neue Ideen. Er löst im Juni 2022 Tillmann Benfer als Kirchenmusikdirektor ab.
24.10.2021, 14:49 Uhr
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Von Susanne Ehrlich

Herr Selinger, im Juli 2022 werden Sie die Nachfolge von Kirchenmusikdirektor Tillmann Benfer antreten.  Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, von den Musikmetropolen München und Salzburg nach Verden zu wechseln?

Robert Selinger: Das hat verschiedene Gründe, einerseits eher private, weil ich das Bedürfnis hatte, mich weiterzuentwickeln, andererseits auch den Wunsch, beruflich mal ganz andere Schwerpunkte zu setzen. Vor allem aber hatte das mit der Ausschreibung der Stelle in Verden zu tun, die kam für mich genau im rechten Moment. Ich war schon zuvor immer wieder auf den Namen Tillmann Benfer gestoßen und habe gesehen, welch spannende und vielfältige Arbeit er macht und was alles in Verden möglich ist. Umso mehr hat mich das Profil dieser Stelle interessiert. Die Gespräche und Begegnungen während des Auswahlverfahrens und der erste Kontakt zum Domchor haben mich vollends überzeugt, und ich freue mich jetzt sehr auf diese Arbeit.

Sie haben sich mit einer Vielfalt von Tasteninstrumenten beschäftigt, etwa dem Clavecin, dem Virginal oder dem Hammerflügel und sind auf diesem Gebiet ein gefragter Fachmann. Werden Sie auch diesen musikalischen Schwerpunkt in ihrem neuen Wirkungskreis verfolgen?

Ich möchte ihn auf jeden Fall gern weiterführen und denke, dass es dafür Möglichkeiten geben wird. Vor allem jedoch will ich diese spezielle Blickrichtung einbringen, mit jedem Instrument in Dialog zu treten und seinen idealen Klang zu entdecken. Und natürlich ist die Liebe zu den genannten Tasteninstrumenten nicht als Spezialisierung gemeint, sondern sie schließt auch die die Orgel mit ein. Ich habe in meiner Arbeit auch zuvor schon das gesamte Spektrum betrieben, mich aber über lange Zeit hauptsächlich der Alten Musik gewidmet. Nun will ich mich wieder mehr in die Breite öffnen; das Orgelrepertoire umfasst ja 700 und der Chorgesang sogar 1000 Jahre Musikgeschichte.

Am Mozarteum in Salzburg haben Sie Lehraufträge in den Fachgebieten Generalbass und Ornamentik. Können Sie diese speziellen Kenntnisse in der musikalischen Alltagsarbeit zur Anwendung bringen?

Ich denke, dass das nicht im Fokus stehen wird. Ich bringe zwar einige kirchenmusikalische Kontakte und Konzertideen mit, aber was mir viel wichtiger ist, ist das "sprechende Element", das Vermitteln von Ausdruck. Musik kann als Sprache begriffen werden, die jeder Mensch verstehen kann, nicht nur die Fachleute, weil sie nämlich zum Herzen spricht. Die Effekte und Gefühle der Barockmusik zum Beispiel kann man mithilfe spezieller Kenntnisse vermitteln und für jeden hörbar machen.

Sie übernehmen neben der kirchenmusikalischen Arbeit im Verdener Dom auch administrative Aufgaben in mehreren Kirchensprengeln. Werden Sie Ihre Aufgaben als Lehrender am Salzburger Mozarteum und die Leitung Ihrer beiden Münchener Ensembles für Alte Musik aufgeben?

Ja, das werde ich. Ich möchte mit voller Energie und Präsenz für meine neuen Aufgaben in Verden da sein, da kann ich nicht hier und da noch unterrichten oder Konzertprojekte in München durchführen. Die Ensemblearbeit möchte ich allerdings auch in Verden intensiv pflegen und mit Musikern der Region Kontakt aufnehmen. Klar ist das ein Einschnitt für mich, aber ich bin grundsätzlich nicht der sentimentale Typ. Am meisten werde ich meinen Münchener Chor vermissen, aber ich habe schon oft gesehen, dass es gut ist, wenn Veränderungen passieren, auch für die Ensembles selbst. 

Während Sie in München in der Zusammenstellung und im Repertoire ihrer Ensembles aus dem Vollen schöpfen konnten, müssen Sie hier gleichsam mit dem vorlieb nehmen, was Sie vorfinden. Wird das eine Herausforderung für Sie sein?

Nein, ich glaube, dass die Dommusik in Verden ein ganz großes Potenzial hat, hier gibt es großartige eingeübte Formate, engagierte Ensembles und tolle Instrumente, und auch in der Umgebung sehe ich viele Möglichkeiten für gute musikalische Kontakte mit der Hochschule für Künste Bremen und vielen regionalen Ensembles und Musikern. Von Vorliebnehmen kann also überhaupt nicht die Rede sein. Übrigens ist München ohnehin keine Hochburg für Alte Musik. Und an der Kreuzkirche haben wir selten oratorische Aufführungen gemacht; das gaben der Raum und das Umfeld nicht her. Es gab deshalb fast nur kleinere Aufführungen Alter Musik, und ich denke sogar, dass ich im Verdener Dom viel mehr Freiheiten haben werde.

Diese Frage interessiert sicher vor allem die Mitglieder des Domchores: Wird es auch unter Ihrer Leitung eine Kantorei mit Sängern und Sängerinnen geben, für deren Mitwirken die Freude am Singen wichtigste Voraussetzung ist?

Auch für mich ist die Freude am Singen die wichtigste Voraussetzung, aber das steht nicht im Widerspruch dazu, dass Menschen, die im Chor singen wollen, an ihrer Stimme arbeiten. Denn natürlich muss es auch um musikalische Qualität gehen. Ich hatte auch das Gefühl, dass im Domchor großes Interesse besteht, sich weiterzuentwickeln.  

Sie stellen zwei Ansprüche an Ihre Arbeit, die scheinbar einen Widerspruch bilden: Zum einen den barrierefreien Zugang aller Menschen zur Kirchenmusik, zum anderen höchste akademische Standards in der Umsetzung Ihrer Musikprojekte. Wie kann beides zusammengehen?

Hier geht es vor allem darum, Ziele zu formulieren: Wie wollen wir unsere Arbeit gestalten, wie können wir ganz unterschiedlichen Menschen die Möglichkeit geben, zu uns zu kommen? Ich denke da an neue Ideen der Vermittlung, an neue Formate wie zum Beispiel Gesprächskonzerte, bei denen Musik nicht nur aufgeführt, sondern auch erklärt wird. Oder ich denke an die Bereitstellung eines festen Kartenkontingents für Menschen, die sich keine Konzerttickets kaufen können, weil sie kein Geld haben. Oder an Musik für Menschen, die sich in der normalen Konzertsituation nicht wohl fühlen oder sie nicht durchhalten. Für sie könnte man ein einfacheres Repertoire anbieten, gut verständliche Musik, aber auf höchstem musikalischem Standard. Und was die Standards betrifft, dabei geht es darum, alles so gut zu tun, wie wir es tun können. Es geht also überhaupt nicht darum, professionelle Maßstäbe an die Chöre und Musiker im Dom zu legen. Aber wenn wir unsere Hörer erreichen wollen, müssen wir so gut sein, wie wir es können. Ich mag nichts Lauwarmes oder Halbgares, das tut der Musik nicht gut und auch den Musikern und den Hörern nicht. 

Der Verdener Dom hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Musik erlebt, und es haben sich lieb gewordene Traditionen entwickelt. Wie wird es mit dem neuen Domkantor Selinger weitergehen, wie gestalten Sie die Balance zwischen geliebtem Altbewährtem und zeitgemäßer Innovation und Vielfalt?

Darüber bin ich bereits im Austausch mit Tillmann Benfer. Natürlich ist mir diese Balance wichtig. Die Sommermusiken, Kantatengottesdienste, Oratorien und Orgelmusik soll es natürlich weiterhin geben. Aber ich will auch mit meinen Pfunden wuchern und eigene Impulse einbringen. Da gibt es viele Ideen, wie zum Beispiel Stummfilme zu zeigen und dazu Orgelmusik zu spielen oder Musik so in den Raum zu stellen, dass man sie aus allen Richtungen erlauschen kann. Das könnten auch Konzerte ohne Anfang und Ende sein, wie ein begehbarer musikalischer Garten, in den man kommen, etwas verweilen und wieder gehen kann. Das alles lässt sich gut mit dem Bewahren der bewährten Formate vereinbaren.

Sie haben als eines Ihrer wichtigsten Ziele definiert, eine kulturelle und spirituelle Leuchtturm-Funktion für die Gesellschaft zu übernehmen. Können Sie diese Zielsetzung anhand konkreter Beispiele und möglicher Projekte erklären?

Das kann man auf einen Kern zuspitzen: Ich rede gerne von "Musik in der Kirche" statt von "Kirchenmusik". Das schließt letztere ein, öffnet sich aber nach außen. Wir müssen uns fragen, welche Rolle wir überhaupt spielen wollen; ich würde uns auch als Kulturträger sehen, wie zum Beispiel das Musikfest Bremen oder das Domgymnasium, um ganz unterschiedliche Beispiele zu nennen. Wenn wir die Musik in der Kirche auch als Kulturarbeit sehen, dann kann der Dom ein integrativer Leuchtturm sein und kann verschiedenste Menschen in kulturellen Projekten vereinen. Ich möchte ihn zugleich als eine spirituelle Stätte und eine wichtige Kulturstätte sehen. Dabei dürfen die Inhalte nicht beliebig sein. Sie sind der Aufgabe untergeordnet, in die Gesellschaft hineinzuwirken, für zugleich kulturelles und spirituelles Erleben zu sorgen und mit neuen Hörangeboten noch mehr und andere Menschen in den Dom zu bringen. Das könnten Musikangebote in Kombination mit Lichttechnik oder anderen visuellen Medien sein; man könnte Musik und Tanz miteinander kombinieren, eben alles, was in den Verdener Dom passt und stimmig ist.

Was bedeutet Ihnen der christliche und evangelische Glaube, was bewog Sie angesichts all Ihrer anderen Erfolge und Perspektiven, Kirchenmusiker zu werden?

Das ist eine Prägung, aus der ich komme und die im meiner Familie immer präsent war. Kirche und Glaube waren für mich immer damit verbunden, das in Musik auszudrücken. Men­schen, die in der Kirche zusammen Musik machen, haben ganz besondere Erlebnisse miteinander, weil es eben nicht nur musikalische, sondern auch spirituelle Erlebnisse sind. Ich habe in Salzburg und mit meinen Ensembles stets ein sehr karrierebetontes Arbeiten erlebt, und deshalb fasziniert es mich besonders, dass ich hier versuchen kann, alle Menschen anzusprechen und einzubeziehen, das Miteinander steht im Fokus. Ich kann alleine musizieren, aber ich kann nicht alleine Kirche machen.

Das Interview führte Susanne Ehrlich.

Zur Person

Robert Selinger wurde 1987 geboren und leitete in seiner bisherigen Tätigkeit eigene Konzertreihen und unterschiedliche Ensembles. Nach mehreren Masterabschlüssen übernahm er zusätzlich Lehraufträge an der Münchener Musikhochschule und konzertiert regelmäßig im In- und Ausland.

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