Dirk Radeke erinnert sich noch genau, wie es war, als die Para-Dressurreiterin Heidemarie Dresing 2018 das erste Mal auf La Boum saß, seiner damals fünfjährigen, recht temperamentvollen Hannoveranerin. „Als hätte man einen Schalter umgelegt“, sagt er, so vorsichtig habe sich das Pferd sofort bewegt und die neue Reiterin „wie auf einer Sänfte getragen“. Der Testerfolg besiegte nicht nur die Skepsis des Züchters, sondern verstärkte auch noch Dresings Wunsch und Wille, die erstaunlich sensible Stute zu erwerben. Nach einigem Hin und Her wurde man sich handelseinig, und seither ist La Boum die zuverlässige Sportpartnerin der an Multipler Sklerose erkrankten Architektin.
Musik aus Kultfilm
Wäre La Boum ein Mensch, hat die im westfälischen Rheda-Wiedenbrück lebende Heidemarie Dresing einmal erklärt, „wäre sie eine Professorin, denn sie kann lesen und schreiben“. Ihre tolle Stute sei immer hellwach, und wenn ihr etwas nicht gefalle, „dann zwickt sie auch mal“. Die dergestalt gedeihliche Zusammenarbeit führte kürzlich bei den Paralympics zu zwei hervorragenden vierten Plätzen in den Einzelwettbewerben der Grade II. Für die Kür hatte die begeisterte Klavierspielerin, mit 66 Jahren die älteste Athletin im gesamten deutschen Tokio-Team, passenderweise Musik aus dem französischen Spielfilm „La Boum“ ausgewählt. Gemeinsam mit Saskia Deutz/ Soyala (Rügen) und Regine Mispelkamp/ Highlander Delight’s (Geldern) stand zudem Rang sieben – unter 18 Nationen – in der Mannschaftswertung zu Buche.
Familie Radeke, die auf ihrem seit Generationen bestehenden Hof in Verden-Walle Landwirtschaft und vor allem Pferdezucht betreibt, hatte noch einen weiteren wichtigen Grund, das reitsportliche Geschehen im fernen Japan per TV besonders ausgiebig und gespannt zu verfolgen. Neben der Londontime-Tochter La Boum, deren 23-jährige Mutter Cecilia noch zum stattlichen Stutenbestand zählt, befand sich auch Best of 8 v. Bonifatius immer wieder buchstäblich im Blickpunkt. Die 2010 geborene braune Stute stammt ebenfalls aus der Zucht von Dirk Radeke (47) und ist inzwischen das Spitzenpferd der Belgierin Michèle George. In Tokio gab es in der Grade V gleich zweimal Gold für das Ross- und Reiterin-Paar, das sich erst vor zwei Jahren gefunden hat.
Wie sich das im Einzelnen abgespielt hat, wissen Radekes nicht. Best of 8, deren Mutter Melodie bereits verstorben ist, wurde dreijährig zwecks Ausbildung einem erfahrenen Reiter des Niedersächsischen Landgestüts Celle überlassen und ging im Januar 2014 über die Verdener Auktion an einen ausländischen Kunden. Später soll ein weiterer Auktionsverkauf stattgefunden und die Stute „über Umwege“ schließlich im Stall von Dressur-Star Isabell Werth in Rheinberg gelandet sein. Michéle George, vielfache Medaillengewinnerin bei internationalen Championaten, soll das Pferd dort 2019 für sich entdeckt haben. Es passte offenbar auf Anhieb bestens mit Best of 8: Noch im selben Jahr gelang Doppel-Bronze bei den Europameisterschaften in Rotterdam.
Gute Kinderstube
Dass Dirk Radeke, Ehefrau Annette, von Beruf Tierärztin, und alle anderen pferdebegeisterten Familienmitglieder sich auch stetig über den Karriereweg der Belgierin mit Best of 8 auf dem Laufenden halten, versteht sich von selbst. Nach den Triumphen in Tokio tauschte man sich mit der Reiterin auch über WhatsApp aus. Der beeindruckende Weg von Heidemarie Dresing mit La Boum ist natürlich ebenfalls stets top-aktuell präsent. Schließlich haben Radekes schon die Anfänge hautnah miterlebt. Wie alle anderen Pferde, die auf dem Hof zur Welt kommen, wuchs auch La Boum geruhsam und behütet auf, in „guter Kinderstube“ und voll Vertrauen zu den Menschen um sie herum.
Dreijährig „schonend angeritten“, stellte sich die Stute schnell als vielversprechend heraus. Die frühere Auktionsreiterin Friederike Brünger (RV Graf von Schmettow) stellte sie erfolgreich auf Turnieren vor und fiel dort irgendwann einer Bekannten von Heidemarie Dresing auf. Dresing ließ die Kunde keine Ruhe. Selbst passionierte Pferdezüchterin, seit ihrem zehnten Lebensjahr Reiterin im sogenannten Regelsport und im Para-Sport aktiv, seit 2011 bei ihr MS diagnostiziert wurde, wollte La Boum unbedingt ausprobieren und kam angereist.
Rückkehr nach Verden
Dirk Radeke hatte allerdings Bedenken, ob es tatsächlich „passen“ würde mit den beiden. Doch oh Wunder, das „Feuerpferd“ La Boum erwies sich auf Anhieb als sehr wohl passend für die Reiterin, die kaum ihre Beine benutzen kann. Als wenn die ebenso stattliche wie bewegungs- und charakterstarke Stute gewusst hätte, was nun von ihr erwartet wurde, habe sie sich umgehend auf die Situation eingestellt und viel Vorsicht walten lassen. Für Heidemarie Dresing stand nun umso mehr fest, dass sie das Pferd unbedingt haben wollte, erschien noch ein weiteres Mal, und nach „kurzem Verhandeln“ hat man sich einigen können.
Die Vereinbarung galt auch noch, nachdem ein Veterinär an Dresings Wohnort „ein paar Befunde“ erhoben hatte, die ihn veranlassten, vom Kauf abzuraten. Das Geschäft kam zustande, wenn auch mit einem etwas „günstigeren“ Preis als dem ursprünglich vorgesehenen. „Es war immer noch eine Menge Geld“, erzählt Radeke freimütig. Der abgeschlossene Vertrag enthält übrigens auch eine Klausel, wonach La Boum zurück nach Verden-Walle kommt, wenn die sportliche Laufbahn beendet ist. Dann könnte die Karriere in der Zucht beginnen.