Nach acht Monaten der Theater-Abstinenz hob sich der Vorhang am Mittwoch für das Publikum des Verdener Theater-Abonnements mit Molières "Tartuffe". Die Schauspieler der Burghofbühne Dinslaken präsentierten den Klassiker in einem modernen, komödiantisch aufgelockerten Gewand mit viel Gesang, Slapstick sowie Körpereinsatz und einer auf anderthalb Stunden komprimierten Textfassung. Auf eine Pause verzichteten sie. Dadurch erhielt das Stück zeitweise einen geradezu atemlosen Drive.
Durch die beinahe radikalen Straffungen in der Inszenierung von Boris Motzki traten einige der Figuren stark in den Vordergrund, während andere deutlich konturloser blieben. Während Arno Kempf die Figur des leichtgläubigen, in seine eigene Großherzigkeit verliebten Orgon in all ihren Facetten ausspielen konnte, blieb Tartuffe (István Vincze) in seinen recht kurzen, eher schattenhaften Auftritten recht obskur: Seine wendige Eleganz in Auftreten und Sprache hob ihn extrem als Alpha-Tier heraus und setzte einen starken Kontrapunkt gegen sein offensichtlich asoziales, manipulatives und schmarotzerhaftes Verhalten. Orgons ungebärdig-aggressiver Sohn Damis (Philip Pelzer), der während der ganzen Aufführung in seiner Unterwäsche blieb, und Valère (Markus Penne), der Verlobte von Tochter Mariane in seinem Shorty-Schlumperschlafanzug hingegen konnten ihre Aufgabe als mahnende, vernunftbegabte Gegenspieler eben nicht durch ihr Auftreten unterstreichen. Sie erfüllten optisch eher das Klischee des "Prolls in Gummizug-Klamotten", dem sogar die pfiffige Gestalt des Cleante (Matthias Guggenberger), der bei Molière für Überblick und Lösungsgeschick steht, via Jogginganzug huldigte.
Dadurch, dass Tartuffe wenig Zeit für das aalglatte Moralgeschwätz blieb, mit dem er Orgon zu absoluter Hörigkeit verführt, wirkte dessen Entschluss, ihm seine Tochter und sein Vermögen gleichsam nachzuwerfen, recht unvermittelt. Widersprüchlich schienen auch die Frauen: Gattin Elmire (Christiane Wilke) wirkte eher genervt von Tartuffe als wirklich zornig und zwischenzeitlich sogar offensichtlich geschmeichelt durch seine Avancen, und auch Mariane (Maren Kraus) blieb recht konturlos in ihrem Widerstand gegen die widerwärtigen Kuppelpläne des Vaters und wenig leidenschaftlich angesichts der Rettungsversuche durch ihren in allen kritischen Situationen durch starkes Stottern gehemmten Verlobten. Eine zeitgemäß frische Fassung hätte gern noch eine Schippe Frauenpower drauflegen dürfen. Diese besaß Dienstmagd Dorine (Christine Schaller), das allwissende Faktotum des Hauses, im Überfluss. Sie war in dieser Inszenierung die eigentliche Hauptperson von übersprudelnder Energie und stringenter Autorität. Wen wundert's, dass Mariane dies am Ende attraktiver zu finden scheint als solche Helden in Schlotterhosen?
Viel Spaß machten die oft auch in sehr persönlichen Choreografien ausgetanzten Gesangseinlagen, französische Chansons voll Esprit und Romantik, die fast zu einer eigenen kleine Revue wurden. Auch hier brillierte Christine Schaller, die einen eigenen langen Szenen-Applaus einheimste. Die Unbeschwertheit und der Gesang waren es auch, die das Publikum am liebsten mochte. "Die Musik hat den eigentlich doch ernsthaften Inhalt wunderbar aufgelockert", fand Karl-Hermann Fastenau. "Nur schade", ergänzte er, "dass es so viele leere Plätze gab. Es wäre schön gewesen, wenn noch viel mehr Verdener gezeigt hätten, wie wichtig ihnen unsere Kulturlandschaft ist". Leider hatten sich nämlich nur etwas mehr als die Hälfte der möglichen Zuschauer in die Stadthalle getraut. Die Bestuhlung war zwecks optimaler Planungssicherheit noch auf nur knapp 150 Zuschauer mit entsprechend großen Abständen eingerichtet, von denen nur 80 besetzt waren.
Annemarie Farke, Theater-Abonnentin der ersten Stunde, war begeistert: "Molière ist ja eigentlich keine ganz leichte Kost", fand sie. "Umso schöner, dass das Stück so locker und kurzweilig präsentiert wurde." Auch sei sie sehr froh, endlich wieder mal ins Theater gehen zu können. "Diese Präsenz ist für mich keinesfalls durch einen Bildschirm zu ersetzen. Das ist der eigentliche Genuss." Die erstmalig eingesetzte Hybrid-Form fand sie deshalb eine gute Idee, würde sie aber selbst nicht nutzen, anders als über 60 Theaterfreunde, die sich einem exklusiven Live-Stream zugeschaltet hatten. Dieses Angebot der Stadthalle und der Stadt Verden gab es an diesem Abend zum ersten Mal, und es konnte im Vorverkauf online ebenso wie die echten Karten gebucht werden.
Auch Gesine Ahlers, als Sprecherin des Theater-Beirats maßgeblich an Programmgestaltung und Organisation des Verdener Theater-Abonnements beteiligt, zeigte sich rundum zufrieden. "Das war richtig klasse, nicht mit Gewalt modernisiert, dafür sehr raffiniert." Die eigentlich recht komplizierte Auflösung, die bei Molière stets durch einen "Deus ex Machina" geschehe, empfand sie in der Kurzfassung als "besonders gut gelungen".