Wenn Eltern für ihre Kinder etwas Neues zum Vorlesen suchen, gehen sie in die Buchhandlung oder Bücherei. Wenigstens die meisten. Matthias Schultz hat einen anderen Weg gewählt, sich an den Schreibtisch gesetzt und selbst ein Buch geschrieben. „Ab an die Waterkant“ heißt das Werk, das gleichzeitig Kinderbuch und Reiseführer ist. Für den 51-Jährigen ist es auch eine Annäherung an die Heimat, denn aufgewachsen ist er vor den Toren Bremens in Achim. Auch wenn sein Zuhause seit Jahren das fränkische Bad Kissingen ist, so fühlt er sich dem Norden weiter verbunden.
In „Ab an die Waterkant“ schickt Schultz eine Gruppe winziger Wesen auf eine Reise durch das Elbe-Weser-Dreieck. Die Tour führt nach Bremen, Oldenburg, Verden, Hamburg und bis hinaus zur Hochseeinsel Helgoland. Die Hauptfigur ist Fussel, eine Fluse, die in einem Bremer Antiquariat lebt. Ihr bester Freund ist Pfennig, eine Münze, die sich für Technik und Zahlen interessiert und auf der Suche nach ihrer Mutter ist, der guten alten Mark. Dann sind da noch der Künstler Pinsel, der Architekt Schinkel oder die beiden Musikfreunde Presto, ein Metronom, und die Stimmgabel Cantabile oder das Hamburger Urgestein Stichel.
Entdeckungen im Bremer Ratskeller
Diese fantastischen Kreaturen erleben fantastische Abenteuer vor realer Kulisse. Zwar können Leser nicht wie die Figuren in ein Luftschiff „aus Feenhaar, Drachenhaut und Libellenflügeln“ von einem Schauplatz zum nächsten reisen, doch die Entdeckungen, die Fussel und ihre Freunde im Bremer Ratskeller, in der Hamburger Speicherstadt und vielen weiteren Orten machen, lassen sich sehr gut nachvollziehen. Selbst für Einheimische, die mit den Lokalitäten des Buches gut vertraut sind, können bei der Lektüre noch Neues entdecken, weil Schultz bei der Recherche für sein Buch stets die Perspektive seiner Protagonisten im Kopf hatte. Und eine winzige Fluse blickt nun einmal anders auf die Dinge als ein ausgewachsener Mensch. Gleichzeitig macht der Blick von unten die Geschichten auch für Kinder interessanter, weil auch für sie die Welt mitunter größer erscheint als für die Eltern.
Aufgeteilt ist das Buch in zwei Teile. Der erste Teil erschien bereits 2009 und wurde nun vom Autor noch einmal überarbeitet. Er spielt vor allem in Bremen, Bremerhaven und Oldenburg. In der in diesem Jahr vollendeten Fortsetzung geht die Reise weiter über das Bremer Umland, nach Lüneburg und Hamburg bis ans Meer. Beim Durchblättern des Buches fallen die Illustrationen ins Auge. Auch sie stammen aus der Feder von Schultz. Die in Schwarz-Weiß gehaltenen Landkarten und Abbildungen sind geprägt von einer Liebe zum Detail und belegen, dass Schultz auch beim Zeichnen mehr als nur ein bisschen Talent mitbringt.
Vielschichtige Biografie
Der 51-Jährige war und ist vieles: Bremer, Achimer und Franke, studierter Architekt und Kunsthistoriker, gelernter Fernsehredakteur, freischaffender Journalist, Vater und Sohn, Ehemann und Ex-Partner, Buddelschiffbauer und Buchautor. Beim WESER-KURIER sammelte er erste Berufserfahrung. Er schrieb Beiträge unter anderem für das Kulturressort und den Achimer Lokalteil. Zur niedersächsischen Kleinstadt vor den Toren Bremens hat er eine besondere Beziehung. Hier leben sein Vater und sein Bruder, hier machte er vor gut 30 Jahren sein Abitur.
Die vielschichtige Biografie von Autor Matthias Schultz offenbart sich bei der Lektüre seines Buches immer wieder aufs Neue. Denn die Erzählung funktioniert nicht nur als Gutenachtgeschichte für Kinder und Ideengeber für Ausflüge in Norddeutschland, sondern versteht es auch, Erwachsene gut zu unterhalten. Wie bei einem Animationsfilm aus dem Hause Pixar hat Schultz verborgene Ebenen in seinen Geschichten verwoben, an denen sich Kenner erfreuen können. Da gibt es mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf das Werk von Rainer Maria Rilke, Johann Wolfgang von Goethe oder Wilhelm Busch. Wer sich mit Musik auskennt, sollte genau lesen, was Cantabile und Presto zu sagen haben. Freunde der Bildenden Kunst können von Pinsel durchaus etwas lernen.
Und dann ist da noch eine ganz persönliche Ebene: „Ab an die Waterkant“ hat Schultz auch für seinen Vater geschrieben. Der Achimer ist an Parkinson erkrankt und hat nur noch wenige Monate zu leben. Er soll das Werk noch selbst lesen und in den Händen halten können.