Die Kleinen haben Durst. Sie richten ihre Hälse auf, klappern mit den Schnäbeln und geben schrille Laute von sich, als Petra Müller das Ende der Spritze in die Plastikschale mit dem Wasser taucht. Wenn die Verdenerin ihre Storchenküken versorgt, herrscht Aufregung im Freigehege der Intensivpflegestation. In der Mitte, auf abgesägten Ästen, thronen zwei mit Stroh ausgekleidete Autoreifen gut einen Meter über dem Boden, dazwischen ein Vogelnest auf einer Karre.
Auf ihrem landwirtschaftlichen Hof bei Dauelsen, zwischen Werkstatt und Rinderstall, umgeben von Maschendraht, hat Petra Müller einen geschützten Ort für ihre Pflegekinder geschaffen. Zwei bis fünf Wochen sind sie alt, Waisen, für ihr Alter schlecht entwickelt und schwach. Anwohner haben sie in Büschen und Dachrinnen gefunden. Oder Hans-Joachim Winter, der Wildstorchbeauftragte im Landkreis Verden, hat sie aus ihren Nestern genommen, wenn sich abzeichnete, dass ihre Eltern sie bald verstoßen würden. Petra Müller will ein Auge auf die Sorgenkinder haben, bevor der Umzug zur Storchenstation naht und sie sich immer weiter aus dem Leben ihrer Schützlinge entfernen wird. Sobald es kalt wird, sollen die Störche ihrem natürlichen Zugtrieb nachgehen. Und Müller muss sie ziehen lassen.
In etwa fünf Wochen beginnt der Entfremdungsprozess. Bis dahin sorgt die 52-Jährige tagtäglich für Schutz, Nahrung und ein bequemes, sauberes Nest. Petra Müller steht in Gummilatschen an den Nestern, betankt eine Spritze neun Mal mit Wasser. Für jeden Schützling eine Ladung. „Das war erst der Anfang. Es werden sicherlich noch viel mehr kommen“, sagt sie, greift behutsam nach einem zierlichen Schnabel, hält ihn aufrecht, spreizt beide Mundwerkzeuge und flößt dem Küken das Wasser ein. In einer fließenden Handbewegung streicht sie kaum merkbar längs über den Schnabel. So, als wollte sie sagen, dass alles in Ordnung ist.
Geburtenstarkes Jahr
Die Sonne fällt an diesem Vormittag erbarmungslos auf die Jungtiere. Sie ist auch der Grund, warum die meisten von ihnen schutzlos sind. Frösche, Kaulquappen, Regenwürmer und Feldmäuse – alles geeignete Nahrung für die Brut, durch das trockene Klima aber seltene Beute für die Eltern. „Wir haben richtig Probleme, viele Tiere hungern“, schildert Storchenexperte Winter die Situation. Es ist ein geburtenstarkes Jahr, 80 von 100 Horsten im Landkreis sind bebrütet. Winter schätzt jedoch, dass Paare höchstens zwei ihrer Jungen ohne menschliche Hilfe durchbekommen dürften. Die Schwächsten werfen sie aus den Nestern: ihr Todesurteil – wäre da nicht Petra Müller.
Storchenmutter zu sein, ist ein Vollzeitjob. Petra Müller macht ihn ehrenamtlich. Seit 15 Jahren führt sie die Arbeit von Helmut und Gerda Storch fort, die sich bis ins hohe Alter den Tieren verschrieben hatten. Ohne ihre Familie und eine Nachbarin, die sie bei der Fütterung unterstützen, könnte Müller den Bedürfnissen ihrer Nestlinge nicht gerecht werden. Tagsüber brauchen die Küken alle drei Stunden Nahrung, oft hilft der Enkel. Wenn Zeit ist, zeigt die Landwirtin Kindergartengruppen und Schulklassen den Lebensraum der kranken und frisch ausgewilderten Schreitvögel.
Nun steht die Fütterung an. Petra Müller kommt mit einem großen Eimer in der Hand aus dem Anbau der Werkstatt. Sie greift in den Eimer und verteilt mit Wasser vollgesogene Hühnerküken in den zwei Nestern der vier größeren, bereits gefiederten Störche. Sie picken und zupfen an den leblosen Körpern, verschlingen sie dann. Sechs bis sieben der in drei Kühltruhen lagernden Küken verdrücken sie pro Mahlzeit. Nicht alle Storchenkinder, deren Farbe sich nicht wirklich vom Stroh abhebt, drängen zum Fleisch, das in einer Plastikschale im Nest liegt. „Wenn ihr das nicht wollt, nehm`ich das wieder mit“, sagt Müller in strengem Ton, streckt den Schnabel von einem der schlechten Esser nach oben und lässt das Stück Fleisch im Rachen verschwinden.
Die Störche sind satt, die Aufregung ist verflogen. Müller lehnt mit einem Arm gegen den Türrahmen zwischen der Waschküche und dem mit Wärmelampen ausgestatteten Schlafquartier und blickt mit schmalen, sanften Augen in das Gehege ihrer Pfleglinge. „Was sie ihren Geschwistern gegenüber viel zu wenig hatten, werden sie in zwei Wochen aufgeholt haben“, sagt Müller und nickt bekräftigend. Wie 35 vorige Pflegekinder werden auch die jetzigen bald Paten finden. Die Vermittlung bietet der Förderverein der Storchenstation seit drei Jahren an. Die Paten zahlen einen einmaligen Betrag für die Versorgung und können den Auswilderungsprozess ihres Schützlings begleiten. Ist der davongezogen, bleibt den Paten nichts mehr außer einer Urkunde mit Namen und Foto und der Hoffnung, eines Tages eine Nachricht mit dem Aufenthaltsort ihres Storches zu bekommen, sollte die Ringnummer des Vogels abgelesen werden.
Müller kann so leicht nichts mehr erschüttern. Einmal, erzählt sie, hatte sie drei verwaiste Storchenküken aufgenommen, die beinahe in ihren Ausscheidungen im Kinderbett ertrunken wären. Sie hatten keine Federkielansätze gebildet, der beißende Kot hatte sich durch die Haut gefressen. Müller tauchte sie in ein warmes Kamillenbad, schrubbte den Dreck weg, föhnte die Tiere trocken und behielt sie die ganze Nacht unter einer Wärmelampe. „Die haben mir wirklich leidgetan“, sagt sie und kippt das Wasser, in dem eben noch die Futter-Küken schwammen, in den Abfluss am Betonboden.
Wenn die Pfleglinge erst einmal auf der Storchenstation leben, ist das Gröbste überstanden. Das Areal liegt auf einem Hügel am Waldrand. Der Monolithen-Pfad des Sachsenhains weist den Weg, eine Holzbrücke führt zum Häuschen in Fachwerk-Bauweise. Daran grenzt das Storchen-Areal, umgeben von einem hohen Zaun. Einige Tiere halten sich hinter den dichten Halmen des Schilfs am Teich auf. Weißstörche stelzen über den Rasen, Schnäbel zeigen zum Boden. Neben der Wiese ragt ein Horst auf einem Holzpfahl in den Himmel. Zwei Elterntiere blicken über den Rand der Weidenäste.
Irgendwann werden sie flügge
Müller sieht hinauf. „Die haben mein Auto gesehen“, sagt sie. Durch die Hintertür des Fachwerkhauses betritt sie mit einem großen Eimer in der Hand die Wiese. Vier Störche leben auf der Station, Verletzungen am Flügel hindern sie am Fliegen. Auf der Storchenstation können sie dennoch ein unbeschwertes Leben führen. Anders sieht es aus, wenn Petra Müller Schützlinge bekommt, die ohne Hilfe nicht fressen und schreiten können. „Wenn sie so weit eingeschränkt sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als sie einzuschläfern.“ Tierarzt Eckhard Brunken steht Müller bei diesen Entscheidungen zur Seite, röntgt und schient verletzte Gliedmaßen, ist auch sonntags zur Stelle.
Mit schnellen Schritten geht Müller in ihren Latschen über die Wiese. Auf halber Strecke wirft sie eine Handvoll Küken nach der anderen auf den Rasen. „So, kommt her“, sagt sie etwas gehastet, „sonst kommen die Krähen gleich wieder.“ Die Störche am Boden haben das Futter schnell entdeckt, genau wie einige Artgenossen aus der Luft, die zum Landeanflug ansetzen. Müller füttert auch die fremden Vögel, in der Hoffnung, dass sie ihre Kinder satt bekommen, und sie erst gar nicht aus den Nestern werfen. „Sie sollen wissen, dass sie ihre Kinder nicht rausschmeißen müssen, weil es etwas zu holen gibt.“ Sechs Störche, die eigentlich dazu in der Lage wären zu fliegen, lassen sich auch im Winter von Petra Müller versorgen. Sie haben den Zugtrieb verloren, sehr zum Bedauern der Storchenmutter. „Man muss es machen wie in der Natur. Ich greife daher so wenig wie nötig in den natürlichen Ablauf ein“, sagt sie. So wird sie es auch bei ihren jetzigen Intensivpflege-Patienten machen, langsam wird sie immer weniger präsent sein, bis sie irgendwann das Futter nur noch auf die Wiese der Storchenstation wirft und weggeht. Wenn sich Jungstörche im Sommer das erste Mal mit der Thermik nach oben schrauben und am Himmel immer kleiner werden, dann weiß Müller, dass sie alles richtig gemacht hat. „Dann realisiert man: Die Arbeit eines halben Jahres fliegt da oben.“
Geschichte der Pflegestation
Weißstörche haben im Landkreis Verden seit jeher viele Freunde. Das Ehepaar Helmut und Gerda Storch betrieb 1962 in seinem Zuhause in Verden-Eitze die laut Landkreis erste Storchenpflegestation in Deutschland. Zehn Jahre später zog das Paar nach Dauelsen und pflegte die Zugvögel von dort aus weiter. Die Einrichtung auf dem Grundstück der Storchs erklärte das Land später zur offiziellen Storch-Pflegestation. Es bezuschusste fortan die Futterkosten. Alles Weitere finanzierte Helmut Storch selbst sowie aus Spenden von Unterstützern.
Helmut Storch gab 2002 die Leitung der Storchenstation aus gesundheitlichen Gründen auf. Seine Nachfolgerin Petra Müller betrieb die Pflege- und Schutzeinrichtung ein halbes Jahr von zu Hause, bis der Landkreis Verden das Grundstück zwischen Eisseler Straße und Sachsenhain zur Verfügung stellte. An den Standort der alten Storchenstation erinnert noch heute der Straßenname „Am Storchengrund“. Der Landkreis sorgt für die Rasenpflege des Freigeheges, Futterzuschüsse gibt es aber nicht. Seit 2006 unterhält der eigens dafür gegründete Förderverein zum Schutze des Weißstorches im Landkreis Verden die Station, die über ein Stallgebäude und Unterstände verfügt. Die rund 70 Mitglieder kümmern sich um die Instandhaltung des Grundstückes. Nach Angaben der Kreisverwaltung ist die Einrichtung eine von drei genehmigten Pflegestationen für Weißstörche in Niedersachsen.
Kontakt zu dem Förderverein unter der Rufnummer 0 42 31/ 1 57 53 oder per E-Mail an silke-bruenn@landkreis-verden.de.
Weitere Informationen
In Niedersachsen fühlt sich der Weißstorch sehr wohl. Das Bundesland liegt laut Naturschutzbund Deutschland (Nabu) auf dem zweiten Platz hinter Hessen, wo in Deutschland die meisten der Langstreckenflieger temporär zu Hause sind. Der Nabu Niedersachsen veröffentlicht jährlich die Bestandszahlen. 2017 ließen sich insgesamt 918 Weißstorchpaare nieder, die 1484 Jungstörche zum Ausfliegen brachten. Seit einigen Jahren geht es aufwärts, 2016 hatte es im Land noch 833 Paare mit 1338 Jungen gegeben. Dass sich in Norddeutschland so viele Störche tummeln, hängt auch mit dem veränderten Zugverhalten zusammen. Viele Tiere treten nicht mehr die lange Reise nach Afrika an, sondern verbringen den Winter insbesondere auf Mülldeponien in Spanien oder Portugal, wo es genug zu futtern gibt. „Oft sind sie dann vier Wochen früher hier“, sagt Hans-Heinrich Gerken von der Landesarbeitsgruppe Weißstorchschutz des Nabu Niedersachsen.
Mit der Zählung und Kontrolle der Horste hat das Land Hans-Joachim Winter für den Landkreis Verden und den Südkreis Rotenburg ehrenamtlich beauftragt. Der Wildstorchbetreuer entscheidet, welche Tiere in die Obhut von Petra Müller, Leiterin der Storchenpflegestation in Verden, kommen sollen. Etwa 100 Horste gibt es im Kreis, in schlechten Jahren ist etwa die Hälfte von ihnen bewohnt. An 60 Nester kommt Winter heran, die übrigen sind unerreichbar. Der Steiger, den er sich von der Kreisverwaltung ausleiht, findet auf sumpfigem Untergrund keinen Halt. „Wir haben in unserer Region wirklich viele Horste“, weiß Winter. Die Allerniederung gilt gemeinsam mit der Elbtalaue als einer der bedeutendsten Lebensräume des Weißstorches in Niedersachsen.
Seit vier Jahren ist der Wildstorchbetreuer an den Horsten im Landkreis Verden im Einsatz. Besonders eines ist ihm in dieser Zeit aufgefallen: „Wir haben diese extremen Wetterschwankungen.“ Dieses Jahr macht die Trockenheit den Weißstörchen zu schaffen. Regenwürmer ziehen sich tief in die Erde zurück. „Die Eltern müssten jede Stunde mit Futter zum Nest kommen, jetzt dauert es einen halben Tag, bis sie zurückkehren“, ist Winter besorgt. Gut sieht es auf den Wümmewiesen aus, wo sich derzeit viele Störche tummeln, die in den Zugmonaten durchschnittlich 150 bis 300 Kilometer am Tag zurücklegen.
Störche haben einen starken Zugtrieb. Auf ihrem Weg nach Afrika nehmen sie zwei unterschiedliche Routen: Die Störche Südwestdeutschlands fliegen gemeinsam mit ihren Artgenossen aus Frankreich, Spanien und der Schweiz die westliche Route über Gibraltar und die Sahara, um in der westafrikanischen Sahelzone zu überwintern. Laut Nabu wählen fast 75 Prozent der deutschen Weißstörche die östliche Route, die sie über den Bosporus in der Türkei in den Nahen Osten zunächst bis in den Sudan und sogar bis nach Südafrika führt.