Sobald die Sonne aufgeht, droht ihnen der Tod. Dann werden Grau-, Nil- und Kanadagans in der Wesermarsch von Jägern ins Visier genommen. Und in Zukunft soll die Jagd auf das Federvieh intensiviert werden. Weil seine Population vor allem zum Schaden der Landwirtschaft erheblich gestiegen sei, argumentiert der Kreistag, der soeben eine Verkürzung der Schonzeit einhellig gebilligt hat. Eine kommunalpolitische Entscheidung, die nicht unumstritten ist. Franz-Otto Müller, der die Naturschutzbund (Nabu)-Gruppen im Landkreis betreut, spricht von einem unsinnigen Beschluss, der den Landwirten nicht helfe.
In der rund 825 Quadratkilometer großen Wesermarsch ist das „feindliche“ Federvieh, das zum Beispiel aus Skandinavien und den Weiten Sibiriens regelmäßig zu Besuch kommt, zum Teil aber auch schon sesshaft wurde, insbesondere für die bäuerlichen Betriebe seit vielen Jahren ein Ärgernis. „Es werden immer mehr“, klagt Landwirt und Jäger Jörg Kuck von der Nordsee-Halbinsel Butjadingen. Was Kreisjägermeister Stefan Leihsa bestätigt und insbesondere auf die steigenden Zahlen der Grau- sowie der Nil- und Kanadagänse verweist, die in den vergangenen 36 Monaten in der Wesermarsch erlegt worden sind: 696 im Jahre 2020, 1212 ein Jahr darauf und 2299 im vergangenen Jahr.
Erhebliche Fraßschäden
Leihsa spricht denn auch von einem exponentiellen Wachstum, das vor allem auf den Grünflächen der Landwirte zu erheblichen Fraßschäden führe. Der erste Grasschnitt im Frühjahr falle inzwischen mehr als kärglich aus und sei zudem durch Verkotung verunreinigt. Eine Entschädigung erhielten Landwirte aber nur, wenn ihre betroffenen Flächen in ausgewiesenen Schutzgebieten lägen.

Gänse fressen nicht nur die Felder runter. Ihre Hinterlassenschaften machen den Landwirten ebenso zu schaffen.
Jörg Kuck aus Butjadingen und Stefan Leihsa aus Brake begrüßen die Verordnung des Kreistags, die Jagd auf Grau-, Nil- und Kanadagänse um einen Monat vom 16. Juli bis zum 15. Februar – statt wie bislang bis zum 15. Januar – zu verlängern. In der vom Kreistag gebilligten Verordnung heißt es, dass die Schonzeiten in den Jahren 2024 bis 2026 zur Vermeidung von übermäßigen Wildschäden und aus Gründen der Wildhege verkürzt würden. Was eine Verlängerung der Jagdzeiten um einen Monat bedeutet, die allerdings nur für die von den Gänsen gefährdeten landwirtschaftlichen Flächen gilt, auf denen zum Beispiel Gras wächst oder Winterweizen und Winterraps angebaut werden. Sie gilt nicht in Schutz- oder Natura-2000-Gebieten, nicht an Schlafgewässern der Gänse, nicht im Umkreis von 300 Metern zu einem Seeadler-Horst und auch nicht im Gebiet der Tonkuhle Oberhammelwarden.
Jagd bei Sonnenuntergang
Dieses Gewässer inmitten einer rund 32 Hektar großen ehemaligen Tonabbaufläche wird inzwischen bei Sonnenuntergang von Tausenden Gänsen angeflogen und als Schlafstätte genutzt. Vor einigen Jahren war nach den Worten von Franz-Otto Müller Kritik an sogenannten Gesellschaftsjagden im Umfeld der Tonkuhle geübt worden, die auch bei einsetzender Dunkelheit stattfanden. Die Jäger hätten also gar nicht mehr genau erkennen können, auf welche Gänsearten sie schossen, erläutert Müller. In den Jagdjahren 2019/2020 seien deshalb flugunfähige und verletzte Nonnen-, Bläss- und Graugänse sowie Schnatter- und Löffelenten bei der Tonkuhle aufgefunden worden. Die Tiere habe man töten müssen, um ihr Leiden zu beenden. Nach dem Ende der Jagdzeiten und bei längerer Jagd-Ruhe, so der Nabu-Experte, übernachteten gut 5000 Gänse unterschiedlicher Arten auf dem Tonkuhlensee. Zudem machten 2000 andere Wasservögel dort Rast und suchten nach Nahrung.
Müller verweist im Übrigen „auf die Tatsache“, dass es sich bei der Tonkuhle Hammelwarden um eine vom Land Niedersachsen ausgewählte Ausgleichsfläche für die „Lebensraumverluste“ im EU-Vogelschutzgebiet „Voslapper Groden Süd“ handele. Die Jagd auf Wasservögel in diesem Gebiet von Hammelwarden müsse also eigentlich als gänzlich unvereinbar mit den Naturschutzzielen des Bundeslandes eingestuft werden. Der Nabu-Fachmann hält die Gänsejagd ohnehin für ein „Kaspertheater“, das letztlich sogar die Population der Tiere anheize. Müller, der alternativ eine besser Entschädigung der betroffenen Landwirte fordert: „Das ist wie beim Mähen des Rasens. Nach dem Schnitt wächst er besser und schneller.“
Nach den Worten von Kreisjägermeister Stefan Leihsa gibt es in der Wesermarsch rund 850 Jäger, die in 136 Revieren unter anderem auf Grau-, Nil- und Kanadagans anlegen dürfen. Die erlegten Vögel dienten dem menschlichen Verzehr und würden im Wesentlichen in den Haushalten der Waidmänner verwertet. Allerdings, sagt Franz-Otto Müller, würden so mancher erschossenen Gans auch nur die Brust und/oder ein Schenkel entnommen, während der restliche Körper auf einem sogenannten Luderplatz lande. Luder bedeutet in der Jägersprache totes Tier, das zum Anlocken von Raubwild wie Marder, Fuchs oder Waschbär dient, um sie zu erschießen. Inzwischen legen allerdings auch Naturschützer mit Erde bedeckte Luderplätze als Futterstellen für Vögel wie Rotmilane oder andere Beutegreifer an.
10.000 Hektar Vogelschutzgebiet
Im Landkreis seien rund 10.000 Hektar und damit etwa 18 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche als Vogelschutzgebiet ausgewiesen, erklärt die Pressesprecherin des Kreislandvolkverbandes, Andrea Vogt, auf Nachfrage. Die Schäden gingen dort vor allem auf das Konto von Grau-, Bläss- und Nonnengänsen. Die sich mittlerweile von Oktober an bis in den Frühsommer hinein in der Wesermarsch aufhielten. Die jetzt vom Kreistag verabschiedete Verordnung zur Verkürzung der Schonzeit, so Vogt, helfe zwar, die Grau-, Nil- und Kanadagans intensiver zu bejagen. Für Bläss- und Nonnengänse als die größeren Schadensverursacher gelte die Verkürzung der Schonfrist um einen Monat allerdings nicht.
Derweil verweist Gunnar Meister von der Pressestelle des Landkreises in Brake auf eine Untersuchung der Unteren Naturschutzbehörde, wonach der Brutbestand der Graugans (Anser anser) in Niedersachsen zwischen 1996 und 2020 um mehr als 50 Prozent auf 18.000 Brutpaare angewachsen ist. Und seit dem Jahr 2000 sei auch bei Nil- und Kanadagans landesweit eine besonders starke Zuwachsdynamik zu verzeichnen.
Niedersachsen Umweltminister Christian Meyer hat gleichwohl bereits Anfang des Jahres auf die „internationale Verpflichtung“ aufmerksam gemacht, in den EU-Vogelschutzgebieten ruhige und störungsarme Äsungsflächen zur Verfügung zu stellen. Zugleich verweist Meyer auf die Ausgleichszahlungen an Landwirtinnen und Landwirte, die in diesen Gebieten an den vom niedersächsischen Umweltministerium angebotenen Agrarumwelt- und Klimaschutzmaßnahmen (AUKM) für nordische Gastvögel teilnehmen. Dafür wende das Land Niedersachsen, kofinanziert von der EU, jährlich rund acht Millionen Euro auf.