Ein Nachmittag Anfang Oktober: Mit der einen Hand zieht Daniel Schneider einen Koffer hinter sich her. Mit der anderen bedient er sein Handy. Vor einigen Minuten ist er mit dem Zug am Berliner Hauptbahnhof angekommen, nun bahnt er sich den Weg durch die unterirdischen Gänge des Bundestags. Im September hat er das Direktmandat in Cuxhaven gewonnen. Schneider ist Polit-Neuling, nur gut ein Jahr nach Eintritt in die SPD zieht der 44-Jährige in den Bundestag ein.
So ganz kennt sich Schneider noch nicht aus im politischen Zentrum des Landes. Viel Zeit zu suchen hat er allerdings nicht: Der Abgeordnete muss zu einem Vorstellungsgespräch. Nicht nur die Parteispitzen fragen sich in diesen Tagen, wer mit wem. Auch Schneider muss entscheiden, wer ihn in seiner parlamentarischen Arbeit unterstützen soll.
Noch bevor er das erste Gespräch führt, ist ihm eins klar: „Die Bewerberinnen und Bewerber haben mehr Erfahrungen als ich.“ Und von diesen Erfahrungen möchte er profitieren. Als Schneider am Konferenzraum in der zweiten Etage ankommt, wartet der erste Bewerber bereits. Den Koffer zieht der Cuxhavener noch immer hinter sich her. Es ist kurz vor halb zwei. Bis 20 Uhr wird er Gespräche führen. „Großkampftag“, wie er sagt.
Hilfe von Parteifreunden
Ende des Monats kommt der 20. Deutsche Bundestag zum ersten Mal zusammen. Die größte Fraktion stellt die SPD. 206 Sozialdemokraten werden im Parlament sitzen, mehr als 100 erstmals – wie Schneider. In seiner niedersächsischen Heimat ist er kein Unbekannter: 2005 hat er das Deichbrand-Festival mitgegründet und es bislang als Geschäftsführer betreut. Nun heißt es Plenarsaal statt Open-Air-Party. Noch laufen die Vorbereitungen: Vier Wochen hat der Kultur- und Eventmanager Zeit, sich auf seine neue Rolle vorzubereiten.
Ende September hat der Quereinsteiger seinem Kontrahenten von der CDU das Direktmandat abgenommen. Dreimal hat Enak Ferlemann, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesverkehrsministerium, den Wahlkreis Cuxhaven-Stade II gewonnen. Das ist nun vorbei: Bei der Bundestagswahl ist der Deichbrand-Gründer mit 36,8 Prozent am Christdemokraten vorbeigezogen.
Schneider nimmt an einer Seite des Tisches Platz, die breite Fensterfront im Rücken. Hinter ihm erstreckt sich die Wilhelmstraße. Im Kaiserreich war sie Synonym für die deutsche Regierung. Auch heute noch sind Botschaften und Bundesministerien hier angesiedelt. Nur schemenhaft lässt sich der Fernsehturm zwischen dichten Wolken ausmachen, bis spät in den Nachmittag regnet es. Neben Schneider sitzt Hannes Felix Grosch. Er ist Geschäftsführer der SPD in Nord-Niedersachsen und hilft dem Abgeordneten bei seinem Einstieg in Berlin.
Politisch ist Schneider ein unbeschriebenes Blatt. Abgeordneter zu werden, das war eigentlich nicht Teil seines Plans. Über sein Engagement in Cuxhavens Kultur- und Tourismusbranche ist er mit der Kommunalpolitik in Kontakt gekommen. Zuletzt war der studierte Marketingexperte in der Entwicklung des alten Fischereihafens involviert. Eine Erfahrung, die Schneider zeigt, wie wichtig es ist, auch politisch die richtigen Weichen zu stellen; Unterstützung findet er in den Sozialdemokraten seiner Region. Als die Genossen vergangenes Jahr nach einem „aussichtsreichen Kandidaten“ für die kommende Bundestagswahl suchen, fällt die Wahl auf den gebürtigen Cuxhavener. „Ich hatte direkt großes Interesse daran, im Parlament zu arbeiten“, erzählt er.
Auf Wahlkampf hat Schneider zunächst allerdings „überhaupt keinen Bock“. Mit dem Ziel, Mitglied des Bundestags zu werden, kann er sich jedoch identifizieren. „Mir war klar, dass ich das machen will, aber ich musste mich daran gewöhnen und da reinwachsen.“ Drei Monate nimmt er sich Zeit für die Entscheidung. „Voller Überzeugung“ lässt er sich von den Genossen schließlich dazu bewegen, bei der Bundestagswahl anzutreten. „Aber es war ein krasser Wandel. Wie krass dieser war, erzählt er auch den Bewerbern.
Noch 2017 sei er ziemlich politikverdrossen gewesen. Da lebt Schneider gerade in Hamburg, Olaf Scholz ist Bürgermeister der Stadt und gerät stark in Kritik über den Umgang mit dem G 20-Gipfel. Mittlerweile sieht Schneider Politik differenzierter – und ist glühender Anhänger des führenden SPD-Mannes.
Schneider möchte seine Heimat „enkeltauglich“ machen. Dafür hat er sich acht politische Leitlinien überlegt – von Klimaschutz bis Mobilität im ländlichen Raum. Alles werde er nicht in vier Jahren umsetzen können, schließlich sei er nicht Superman. Aber er möchte sichtbare Erfolge erzielen. Mit einer großen Portion Demut und Respekt würden er und die anderen neuen Parlamentarier ihrer Rolle entgegenblicken, sagt Schneider. „Das ist für uns alle eine Ehre, dort zu sitzen. Da schwingt die Verpflichtung mit.“ Er habe keinen Preis gewonnen, sondern ein Mandat angenommen. „Jetzt geht es darum, dass wir das Vertrauen, das die Leute uns entgegengebracht haben, auch würdigen.“
Das Team muss stimmen
Sorgen, der parlamentarischen Arbeit nicht gewachsen zu sein, macht sich Schneider nicht. „Wir sind viele Neue, man kümmert sich jetzt schon hervorragend um uns.“ Es gebe Einführungsveranstaltungen und IT-Schulungen, und auch die Kollegen der politischen Strömungen und in den Landesgruppen betreuten die Neulinge, sagt Schneider. „Man nimmt uns gut an die Hand.“ Außerdem hätten die Bewerber für sein Büro bereits Erfahrungen bei anderen Abgeordneten gesammelt. Die wüssten, was zu tun ist, wenn zum Hammelsprung gerufen wird: sich schnellstmöglich zum Plenarsaal begeben. Oder wie die Büros gemütlicher werden: Kunst ausleihen.
Dem Deichbrand bleibt Schneider als Partner erhalten, das operative Geschäft habe er niedergelegt. Er freue sich extrem auf das kommende Jahr: Einfach feiern zu können und sich ganz ohne Verpflichtungen ein paar Konzerte anzusehen – nach zwei Jahren coronabedingter Pause findet das Festival im Juli 2022 wieder statt. „Für mich ist die Herausforderung, Familie und Politik unter einen Hut zu bekommen“, sagt der Vater von zwei Söhnen.
Am Ende des Tages sind Schneider und Grosch zufrieden. Sie glauben, die richtigen Mitarbeiter für das Abgeordnetenbüro gefunden zu haben. Schneider will, dass Politik cooler wird und Spaß macht. Dafür muss das Team stimmen. „In die piefigen alten SPD-Büros will doch keiner mehr gehen.“