Das üppige Blätterdach sorgt für einen geheimnisvollen Charakter. „Die Winter-Linden stehen so dicht beieinander, dass sie zu jeder Jahreszeit einen beeindruckenden Tunnel bilden“, beschreibt der Niedersächsische Heimatbund (NHB) seine frisch gekürte „Allee des Monats“. Die November-Preisträgerin verbindet die Dörfer Husum und Brokeloh im Landkreis Nienburg. Die über 100 Jahre alte Schönheit hat allerdings ihren Preis. Die Kreisstraße ist viel zu schmal für den heutigen Verkehr; Begegnungen mit Lastwagen oder Traktoren gestalten sich schwierig. „Teilweise führt das dazu, dass die alten Bäume beschädigt werden“, beklagt der NHB das Dilemma.
Der Konflikt Autos gegen Alleen spielt sich überall in Niedersachsen ab. „Alte Bäume werden oft abgeholzt und nicht wieder ersetzt“, warnt Landschaftswissenschaftlerin Nora Kraack vom Heimatbund. „Alleen sind stark gefährdet.“ 2050 dieser auf beiden Seiten von Bäumen gesäumten Straßen listet der NHB auf – von der privaten Hofzufahrt über den Dorfweg bis zur viel befahrenen Bundesstraße. Von den rund 4700 Kilometern Bundesstraßen in Niedersachsen sind laut NHB 192,6 Kilometer Alleen. Je schneller der Verkehr fließt oder fließen soll, desto mehr gerät die Verkehrssicherheit ins Visier der Straßenbauer. 120 Auto- und Motorradfahrer starben 2019 bei Baumunfällen in Niedersachsen, 25 Prozent mehr als im Vorjahr. Allerdings passierten längst nicht alle dieser Unfälle in Alleen, sondern oft auch an Einzelbäumen oder einseitigen Baumreihen.
„Bäume springen nicht auf die Straße“, sagt Expertin Kraack. Nicht die Alleen seien schuld, wenn es krache. Verkehrssicherheit sei ganz wichtig, aber das bloße Entfernen von Bäumen helfe nicht weiter – auch nicht auf Bundesstraßen. Nötig seien vielmehr Schutzplanken sowie Tempolimit und deren konsequente Überwachung. Das sehen die Grünen ähnlich. „Bund und Land sollten nicht nur in die Nachrüstung von Leitplanken investieren, sondern zur Erhöhung der Verkehrssicherheit auch das Tempo in Alleen reduzieren“, fordern die niedersächsischen Bundestagsabgeordneten Filiz Polat und Sven-Christian Kindler. „80 km/h reichen völlig aus.“
Für Niedersachsens Verkehrsminister Bernd Althusmann (CDU) sind Alleen zwar Ausdruck einer historisch gewachsen Kulturlandschaft. „Für viele Menschen sind sie wahrscheinlich gleichbedeutend mit einem Stück Heimat.“ Aber: „Wir wissen auch um die große Gefahr für Autofahrer, die von Bäumen entlang von Straßen ausgeht, und richten unsere Verkehrssicherheitsmaßnahmen entsprechend aus“, meint der Ressortchef, der Schirmherr des NHB-Projekts „Alleepaten für Niedersachsen“ ist.
Über Tempolimits sagt sein Ministerium aber nichts. Sondern es verweist auf das Nachrüstprogramm für Schutzeinrichtungen, das fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Absicherung von Bäumen erfolgt sei. Danach flossen zwischen 2017 und 2019 insgesamt 14,87 Millionen Euro in Leitplanken.
Grüne fordern Alleenkataster
Außerdem würden die Alleen regelmäßig kontrolliert und geschädigte Bäume erfasst. „Das Land führt an diesen Bäumen pflegerische Maßnahmen zu deren Erhalt und für die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer durch“, erklärt das Althusmann-Ressort. „Sind die Schädigungen an Alleebäumen so stark ausgeprägt, dass die Stand- und Bruchsicherheit des einzelnen Baumes durch solche Maßnahmen nicht mehr hergestellt werden kann, muss dieser jedoch gefällt werden.“ Soweit „verantwortbar“ würden Nachpflanzungen durchgeführt. Dabei werde „in jedem Einzelfall nach fachlichen Kriterien unter Auswertung des Unfallgeschehens über den Pflanzabstand zur Fahrbahn entschieden“.
Laut Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Grünen-Anfrage fällte die Niedersächsische Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr (NLStBV) in den vergangenen zehn Jahren an Bundesstraßen 790 geschädigte Alleenbäume. Ob und in welchem Umfang diese tatsächlich nachgepflanzt wurden, konnte die Verwaltung jedoch nicht sagen. „Das ist ein Armutszeugnis“, schimpft Kindler. Auch die Angaben nach möglichen Ursachen für die Baumschäden – ob Unfälle, Hitze oder Tausalz – blieb die Straßenbehörde schuldig.
Selbst der genaue Alleenbestand ist dort nicht erfasst. „Es existiert lediglich ein Schadbaumkataster“, heißt es in der Auskunft. Daraus sind dann ganze 87,76 Kilometer Alleen an den Bundesstraßen berechnet – weniger als die Hälfte der vom NHB mit Hilfe vieler Ehrenamtlicher zusammengetragen Zahlen. „Niedersachsen braucht endlich ein flächendeckendes und lückenloses Alleenkataster“, fordert Grünen-Frau Polat. Auch NHB-Expertin Kraack wünscht sich von der SPD/CDU-Landesregierung eine systematische Erfassung. „Nur damit kann man eine langfristige Strategie zum Schutz der Alleen entwickeln.“