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Niedersachsen Watenstedt wird zum Geisterdorf

Salzgitter. Watenstedt entwickelt sich immer mehr zu einem Geisterdorf. Umzingelt von Großunternehmen hat die Stadt Salzgitter das alte Bauerndorf schon vor Jahren zum Gewerbegebiet erklärt – neue Häuser dürfen nicht mehr gebaut werden.
16.07.2013, 05:00 Uhr
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Von Anita Pöhlig

Salzgitter. Watenstedt entwickelt sich Jahr für Jahr immer mehr zu einem Geisterdorf. Umzingelt von Großunternehmen hat die Stadt Salzgitter das alte Bauerndorf schon vor Jahren zum Gewerbegebiet erklärt – neue Häuser dürfen nicht mehr gebaut werden.

Das alte Bauernhaus ist längst verlassen, im Garten steht das Gras hüfthoch. Einige Meter weiter pflegt Dorothea Schünemann liebevoll ihren Vorgarten. Auf der Straße sind weder Menschen noch Autos zu sehen. "Es wird alles immer weniger. Wo keine jungen Leute sind, ist auch kein richtiges Leben", sagt die 65-Jährige. In Salzgitter-Watenstedt stehen viele Häuser leer. Doch trotz günstiger Preise finden sich keine Käufer – das Dorf hat keine Zukunft, es soll aufgegeben werden. Eine Entwicklungsgesellschaft soll nun die Abwicklung des kleinen Ortes regeln. Das wird dauern, denn niemand soll gezwungen werden, sein Haus zu verlassen.

Das Schicksal des 450-Einwohner-Dorfes Watenstedt, das zu Salzgitter gehört, wurde spätestens vor 15 Jahren besiegelt. Damals wurde der Ort überplant – so heißt es im Amtsdeutsch, wenn ein Wohngebiet im Bebauungsplan zu einem Gewerbegebiet wird. Fortan durften keine neuen Wohnhäuser mehr gebaut werden. "Damit konnte Watenstedt sich nicht weiterentwickeln", sagt Ortsbürgermeister Karl-Heinz Schünemann (SPD). "Die ganze Infrastruktur löst sich auf. Früher gab es eine Post, eine Bank und bis vor Monaten eine Freiwillige Feuerwehr", erzählt er. Heute gebe es noch einen Bäcker, einen Kiosk und einen türkischen Lebensmittelladen.

1000 Jahre alte Kirche

Der alte Dorfkern mit seinen Fachwerkhäusern und der 1000 Jahre alten Kirche wirkt geradezu idyllisch. Doch schon bei der Anfahrt wird das Dilemma sichtbar. Die Großunternehmen Salzgitter, MAN und Alstom umzingeln das Dorf. Ohne Anwohner könnten sich diese besser entfalten, müssten weniger Auflagen erfüllen. "Mit dem derzeit gegebenen Spannungsfeld zwischen Anwohnern und Industrie ist niemandem gedient", sagt Salzgitters Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU). Die Entwicklungsgesellschaft, die das Dorf abwickeln soll, bezeichnet er als bundesweit einmalig. 51 Prozent der Gesellschaft gehören der Stadt, 49 Prozent der Salzgitter AG. Das Stahlunternehmen ist auf besondere Art mit Watenstedt verbunden – 1938 mussten 16 Bauernfamilien Watenstedt verlassen und wurden in die Region Hannover umgesiedelt, ihr Ackerland wurde für die "Hermann-Göring-Werke" benötigt, die heutige Salzgitter AG. Diesmal soll alles auf freiwilliger Basis laufen, betont Klingebiel.

Ortsbürgermeister Schünemann und die meisten anderen der noch 30 bis 35 Hausbesitzer haben den Kampf für den Erhalt des Dorfes längst aufgegeben. Doch ohne entsprechende Entschädigung ist es für viele von ihnen schlicht nicht möglich, sich ein adäquates neues Zuhause leisten zu können. Auf dem freien Markt werden sie ihre Häuser nicht los. Ein Aufkauf der Häuser, etwa durch die Entwicklungsgesellschaft oder die Stadt, würde nach Berechnungen von Klingebiel 28 Millionen Euro kosten. Ohne Hilfe von EU, Bund und der Wirtschaft sei die Umsiedlung der Watenstedter Bewohner für die Stadt nicht zu stemmen, sagt Klingebiel.

Die meisten der 470 Einwohner sind Rentner, sie versuchen, unbeeindruckt von der Situation weiterzuleben. "Mir gefällt es hier, ich bleibe hier", sagt die resolute 88-jährige Mariechen Speyer. Ihr Vater kam vor 70 Jahren aus der Schweiz nach Salzgitter. "Ach, du bist doch mindestens die Hälfte des Jahres in Spanien", winkt Bürgermeister Schünemann ab. Die Meinung seiner Nachbarin könne man nicht verallgemeinern. "Ich wünsche mir schon noch eine andere Alternative", sagt seine 65 Jahre alte Ehefrau Dorothea. "Wenn hier einer stirbt, der muss seinen Kindern noch viel Geld für den Abriss hinterlassen", sagt Schünemann. Einige der Dorfbewohner müssen zum Jahresende weg. Die Immobiliengesellschaft der Salzgitter AG, der noch immer einige Grundstücke und Mietshäuser gehören, hat ihnen fristgerecht die Kündigung geschickt. "Der Zustand erfordert hohe Investitionen, die wären nicht mehr vertretbar", sagte ein Unternehmenssprecher. Und so sinkt die Einwohnerzahl von Watenstedt stetig weiter.

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