Auf dem Meeresboden lauern tödliche Gefahren – für Fische, Muscheln, Robben, Schweinswale und auch die Menschen: In der Nord- und Ostsee verrotten immer noch 1,6 Millionen Tonnen Torpedos, Minen und Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg vor sich hin. Die tickenden Zeitbomben, die teilweise direkt vor der Küste lagern, bedrohen den Schiffsverkehr und das empfindliche Ökosystem unter anderem im niedersächsischen Wattenmeer. Nach jahrelangem Hickhack um die Finanzierungsfrage hat der Bund jetzt ein „Sofortprogramm Munitionsaltlasten“ auf den Weg gebracht. Vor einer Woche bewilligte der Haushaltsausschuss des Bundestages für 2022 die ersten 400.000 Euro für Planungs- und Erkundungskosten. Für die Folgejahre sind rund 22 Millionen Euro vorgesehen, allerdings noch nicht endgültig abgesegnet.
„Auf Basis von Bund und Ländern gemeinsam zu erarbeitender Gefährdungsabschätzungen sollten Zielgebiete für die lokal begrenzte Räumung identifiziert werden“, heißt es im Etat-Kapitel 1601 unter dem Titel 892 05 „Nationaler Meeresschutz“. So solle in „bekannten Versenkungsgebieten eine Verfahrenskette etabliert werden, die eine umweltschonende und auch ökonomisch effiziente und damit darstellbare Bergung und Delaborierung von Munition möglich macht“. Dabei könne man bei der „bereits heute als bergungsfähig eingestuften Munition eine kostengünstige unbemannte Bergung mit ferngesteuerten Einheiten erschließen“, fordern die Abgeordneten des Gremiums.

Munition rund um die Nordsee-Inseln
„Es war überfällig, dass nun endlich damit begonnen wird, die Weltkriegsmunition aus Nord- und Ostsee zu bergen“, erklärte der haushaltspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Sven Christian Kindler, im Gespräch mit dem WESER-KURIER. Besonders rund um die Nordsee-Inseln lagerten noch Tausende Tonnen Munition auf dem Meeresgrund. „Durch das Salzwasser hat längst die Erosion eingesetzt, wodurch Giftstoffe freigesetzt und das Wasser verschmutzt wird.“ Darunter litten Säugetiere, Fische und Muscheln. „Durch deren Verzehr wird letztendlich auch die Gesundheit von uns Menschen gefährdet“, warnte der Abgeordnete aus Hannover. „Außerdem stellt der Weltkriegsmüll ein Problem für den Schiffsverkehr und Offshore-Windparks dar.“ Daher sei es wichtig, dass die Bundesumweltministerin Steffi Lemke und die Ampel-Koalition das Sofortprogramm nun auf den Weg gebracht hätten.
Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) lobte den Schritt. „Die Bergung dieser Munitionsaltlasten in der Nord- und der Ostsee ist eine nationale Aufgabe. Das sind die finsteren Hinterlassenschaften der dunkelsten Stunden unserer Geschichte“, sagte der Ressortchef dem WESER-KURIER. „Mit jedem Tag, den wir mit der Bergung warten, steigen das Risiko und Aufwand immer weiter.“ Toxische Sprengstoffe und Schwermetalle drohten in die Meeresumwelt zu gelangen – mit unabsehbaren Folgen für Küste und wertvolle Naturräume wie das Wattenmeer. „Uns rennt hier die Zeit davon, die Uhr tickt gnadenlos.“ Vor zwei Wochen hatte sich die Umweltministerkonferenz in Wilhelmshaven mit dem Problem befasst.
Bundesrat belebt Gesetzentwurf wieder
Inzwischen hat sich auch der Bundesrat eingeschaltet und einen elf Jahre alten Gesetzentwurf wiederbelebt. Auf Initiative Niedersachsens hatte die Länderkammer schon im November 2011 das „Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz“ (RüstAltFG) beschlossen, das dem Bund die Kosten für Bergung und Entsorgung von Weltkriegsmunition aufbrummen sollte. Es war eine Reaktion auf den tragischen Unfall in Göttingen, als im Juni 2010 bei der Detonation einer freigelegten Fliegerbombe der Alliierten drei Bedienstete des niedersächsischen Kampfmittelbeseitigungsdienstes ums Leben kamen.
Das Problem: Der Bund hielt sich als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs zwar für Munitionsrückstände der Wehrmacht zuständig, überließ den Ländern aber die Verantwortung für Bomben und andere Kampfmittel der Alliierten. „Besonders stark betroffene Bundesländer sind mit dieser Situation finanziell überfordert“, hieß es damals in der Begründung des Entwurfs. „Zu den Gefahren von Personen-und Sachschäden, die von den in Boden und Gewässern verborgenen Kampfmitteln ausgehen, kommt hinzu, dass die aus Geldmangel verzögerte Beseitigung der Rüstungsaltlasten die Nutzung der betroffenen Flächen verhindert.“
Widerstand vom Bund
Doch der Vorstoß der Länderkammer scheiterte am Widerstand des Bundes. Zwei weitere Anläufe in der Regierungszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verliefen 2014 und 2018 ebenfalls im Sande. Erst die neue Bundesregierung nahm sich der explosiven Rückstände an. „Für die Bergung und Vernichtung von Munitionsaltlasten in der Nord- und Ostsee wird ein Sofortprogramm aufgelegt sowie ein Bund-Länderfonds für die mittel- und langfristige Bergung eingerichtet und solide finanziert“, heißt es im Koalitionsvertrag der drei Ampelparteien SPD, Grüne und FDP. Am 20. Mai beschloss der Bundesrat, seinen RüstAltFG-Entwurf von 2011 eins zu eins erneut im Bundestag einzubringen.