Es ist der Abend von Hannelore Haßbargen, auch wenn sie niemandem im Raum erzählen will, warum sie getan hat, was sie getan hat. „Nein, tu ich nicht“, sagt sie und lacht laut. Die 48-jährige Bäuerin aus Aurich ist mit ihrem Sohn Udo, auch Bauer, ins Kukelorum gekommen. Die Haßbargens haben einen stattlichen Milchvieh-Hof mit rund hundert Kühen, die sogar noch auf die Weide laufen dürfen.
Aber nun ist Versammlung im Kukelorum: Ein ehemaliges Schleusenwärterhaus aus roten Ziegeln, heute ein wunderschöner kleiner Gasthof, im Grünen am Ems-Jade-Kanal zwischen Emden und Wilhelmshaven gelegen. 1888 eingeweiht, eine wichtige Verkehrsader damals, aber Reichskanzler Otto von Bismarck wollte nicht mal zur Einweihung kommen. „Wegen einer Kuhrinne begebe ich mich nicht ins unwirtliche Ostfriesland“, soll er gegrummelt haben.
Die muntere Runde im Kukelorum an diesem Abend würde er schon gar nicht besuchen, der pommersche Junker und Sozialistenhasser. Es handelt sich nämlich um ostfriesische Sozialdemokraten. Genauer gesagt: um den SPD-Ortsverein Aurich-Upstalsboom, dem Frau Haßbargen nun halbwegs feierlich beigetreten ist. Sehr gemütlich, das Ganze: alter Kronleuchter, blaue Balkendecke, Holzdielen, Gemälde mit Moorlandschaft und draußen der Kanal. Die Genossen trinken Tee, Wasser oder Pils.
In Ostfriesland ist alles anders, auch die SPD
Kukelorum muss man erklären. Ostfriesisch, ein Mischwort aus kieken und luren, übersetzt: gucken und warten. Das, was Schleusenwärter früher machten. Und das, was die ostfriesische SPD auch gerade tut, eingeklemmt zwischen Wut und Watt. Kieken und luren, welchen Unfug die Berliner Parteiführung wohl noch ausheckt.
„Es ist einiges vorgefallen“, eröffnet Steffen Haake vorsichtig die kleine Versammlung. Er ist der Ortsvereinsvorsitzende, 24 Jahre alt, ein großer blonder Kerl, der sehr überlegt und fast bedächtig spricht. Seit 2016 ist er Stadtrat im alten und hübschen Aurich, 41.000 Einwohner, wo er sich gerade mit Regenwassergebühren herumschlagen muss. Gleichzeitig ist er Master-Student der Politikwissenschaft in Berlin, nachdem er in Groningen seinen Bachelor machte, in New Hampshire, Washington D. C. und Lesotho unterwegs war, und zwischendurch mal ein Jahr in Paris studierte. Polyglott, global, modern und tief im ostfriesischen Kleiboden verwurzelt. Am 18. Dezember 2013 war er in die Berliner SPD-Zentrale gestiefelt und in die Partei eingetreten. Es war der 100. Geburtstag von Willy Brandt. „Musste sein“, sagt Haake. Symbolik ist ihm wichtig.
Nun sitzt er mit 25 anderen im Kukelorum und muss sich einen Reim auf das machen, was die Nachfahren Willy Brandts seit Monaten Unbegreifliches tun, während ein Lokalredakteur hereinkommt, auf einen Stuhl steigt und die Runde von schräg oben fotografiert. Soll man dem Koalitionsvertrag zustimmen? Was ist in die Parteispitze gefahren? Wo ist der Schulz-Hype hin? Sind die noch zu retten? Ist die SPD überhaupt noch zu retten? „Zum Glück müssen wir uns hier nicht mit der Bundes-SPD vergleichen“, sagt Haake in die Runde. „Sonst ginge es uns wesentlich schlechter.“
Tut es aber nicht. Die ostfriesische SPD ist immer noch eine andere, wahrscheinlich, weil Ostfriesland immer noch ein bisschen anders ist. Dort ist die SPD ist noch verwurzelt und verflochten in Gewerkschaften und Betriebsräten, sogar unter Bauern, in der Arbeiterwohlfahrt, unter Lehrern, unter Angestellten und Arbeitern. Der Nordwesten Deutschlands ist sauber aufgeteilt, er war es immer. Wie Yin und Yang, nur nicht schwarz und weiß, sondern rot und schwarz. Es existieren zwei Welten: Ostfriesland ist evangelisch und SPD-Land, war immer so. Das Emsland südlich darunter ist katholisch und CDU, war auch immer so.
Wahlchampion aus Aurich
Knapp nördlich von Papenburg stoßen diese beiden Welten aneinander. Bei der Bundestagswahl im September 2017 holte der Auricher Johann Saathoff das beste SPD-Erststimmenergebnis überhaupt: 49,6 Prozent. Seinen Wahlkreis gewinnt die SPD seit 1949. Bei der Landtagswahl in Niedersachsen einen Monat später kam der Auricher Wiard Siebels auf 52,5 Prozent. Das sind Werte, die im Ruhrgebiet, dem alten Stammland der SPD, längst Geschichte sind.
Ein Kellner bringt mehr Bier, Kaffee und mehr Tee. Kurzer Lagebericht: Haakes Ortsverein hat 48 Mitglieder, 35 Männer, 13 Frauen. Eine Neuaufnahme, drei Austritte, einer gestorben. Insgesamt „alterslastig“. Letztes Jahr trat sogar ein 84-Jähriger ein. Durchschnittlicher Monatsbeitrag 13,79 Euro, Kassenstand: 48,56 Euro plus. Haake verteilt jetzt aus einem Beutel rote Johann-Saathoff-Kugelschreiber: „Ihr sollt ja auch mal was zurückbekommen von eurem Geld.“ Vom Gemüt her seien die Ostfriesen so, dass ihnen das Tun näherliegen würde als das Reden, meint Haake. „Vielleicht sollten die in Berlin sich mal was vom Ostfriesen abgucken.“ Damit ist die Debatte über den Seelenzustand der deutschen SPD eröffnet. Man ist auf ostfriesische Art empört und außer sich. Das heißt, das meiste spielt sich unter der Oberfläche ab und bricht nur gelegentlich heraus.
Wiard Siebels, 39, der 52,5-Prozent-Champion, fängt an. In Hannover ist er jetzt Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Anders als manche seiner Landsleute kann er reden wie ein Buch und tut das auch. Am Nachmittag noch war er bei Holger im Fitnessstudio. Und auch Holger wollte wissen, was gerade in die deutsche SPD gefahren sei. Siebels musste zu einem drastischen Vergleich greifen: Wären Holgers Mitarbeiter Sozialdemokraten, würden sie ständig laut schreiend aus dem Studio auf die Straße rennen und sich vor Autos werfen, hatte er Holger erklärt. Gelächter im Kukelorum, als er das erzählt. „Haargenau so isses“, ruft einer.
Von Ostfriesland lernen
Man ist einigermaßen fassungslos. Über Martin Schulz. Über die Art, wie Andrea Nahles auf den Thron geschoben werden sollte. Über das Dauergequatsche. Man macht sich große Sorgen. „Wenn die SPD doch mal lernen würde, den Mund zu halten“, erregt sich Siebels. Immer diese Querschüsse, dieses Getwittere, diese Interviews, diese seltsamen Kandidaturen aus Schleswig-Holstein um den Bundesvorsitz.
Und dann Martin Schulz, der nicht unter Angela Merkel Minister sein wollte und dann aber doch, und nun ist er weg vom Fenster. „Ganz schön unnötig“, meint er. „Da können wir unsern Johann Saathof und sein Abschneiden hier dreimal feiern. Wenn dann so etwas passiert, kann man nichts mehr er-klären.“
Man kann nicht mehr erklären, was in Berlin geschieht, das ist wohl der Punkt. Es entzieht sich dem Verstand und aller Erfahrung. Man müsse auf Ostfriesland gucken, rät Siebels deshalb der deutschen SPD. Da könnte man etwas lernen, zum Beispiel professionelles Verhalten. Oder wenigstens auf Niedersachsen. Er erzählt: In Niedersachsen hätten sich CDU und SPD immer gehasst. Von Anfang an. „Wir waren spinnefeind“, erzählt Siebels. Aber nun regieren sie zusammen unter dem SPD-Ministerpräsidenten Stephan Weil und sogar mit dem CDU-Mann Jens Nacke aus Oldenburg, von dem ostfriesische Genossen offenbar träumen, wenn sie einen richtig fiesen Alptraum haben. Sogar mit dem Mann komme man nun im Landtag zurecht. Man ist nicht glücklich, aber man bleibt friedlich.
Und wenn es mit einem wie Nacke gehe, wieso dann ständig dieses Gezanke unter Genossen? Siebels: „Mein dringender Appell: Wir sollten aufhören, die Gegner der SPD innerhalb der SPD zu suchen.“ Zustimmendes Gemurmel im Kukelorum. Wenn man etwas von der CDU lernen könne, dann: „Klappe halten. Wenn die Mist bauen, schweigen die einfach. Wenn wir Mist bauen, müssen wir es auch noch jedem erzählen.“ Alle nicken.
Nein zu "No-GroKo"
Da bricht es plötzlich heraus aus einem älteren Genossen, als habe die wilde Sturmflut einen Deich gebrochen: „Idiotischer Schwachsinn. Was ist denn mit unserer SPD-Spitze los? Hat man denen ins Gehirn geschissen?“ Gelächter, „Jawoll“, ruft einer und Siebels meint beruhigend, Martin Schulz sei doch nun weg vom Fenster. Nun sei es auch mal gut. „Auf den muss man nicht noch einmal schießen oder noch dreimal mit dem Auto drüberfahren.“
Shorty muss was sagen. Shorty heißt so, weil er kein Hüne ist. Eigentlich heißt er Heiner Kuske, er kommt aus Brookmerland, ist gelernter Industriemechaniker, Juso, Gewerkschafter und jemand, der den Entwurf vom Koalitionsvertrag gründlich durchgelesen hat. Um den soll es jetzt gehen. Zustimmen oder ablehnen? Eigentlich war er gegen die Koalition mit der CDU. Nicht noch einmal unter Angela Merkel. Eigentlich. Aber nun diese furchtbaren Umfragewerte von weniger als 20 Prozent und die Gefahr, bei möglichen Neuwahlen richtig abzuschmieren. Er sei gegen die Große Koalition gewesen. „Aber auf Teufel komm raus No-Groko“, so wie Juso-Chef Kevin Kühnert es predigt? „Das geht doch auch nicht“, meint Shorty. „Wir können noch dreieinhalb Jahre etwas bewegen in Deutschland. Wer soll denn sonst in Berlin das soziale Gewissen sein?“
Lieber etwas bewegen und möglicherweise am Ende untergehen als bei Neuwahlen sofort untergehen, meint er. Zustimmung im Kukelorum, ja, das sehen die meisten auch so und nicken. „Die SPD muss richtig Power machen in Berlin“, ruft Hannelore Haßbargen, die funkelnagelneue Genossin und auch dafür gibt es Zustimmung.
Ginge es nach den Genossen in Aurich-Upstalsboom, die Große Koalition käme wohl zustande. „Wenn der Deich in Gefahr ist, muss man oben was draufschippen, sonst wird man weggespült“, hatte Siebels anfangs gemeint. „Mehr Tun, weniger reden. Nicht Dinge kaputter reden, als sie es sind.“ Pflichtbewusstsein, Arschbacken zusammen, einander unterhaken. So etwas wirkt immer, es trifft den Nerv der Leute im Kukelorum. Wohl überhaupt dort oben im Nordwesten.
Frischer Wind fehlt auch der Ostfriesen-SPD
Dann ist die Versammlung vorbei, alle zahlen an der Theke und gehen, Bäuerin Haßbargen steht vor der Tür und raucht noch eine. „Dies lange Sitzen liegt mir gar nicht“, meint sie gut gelaunt und erzählt dann doch, was sie nicht erzählen wollte, als sie, zwei Stunden ist es nun her, ihr rotes Parteibuch vom Genossen Siebels bekam. Nämlich warum sie SPD-Mitglied wurde an diesem Tag. Wegen der Oma zu Hause, erzählt sie draußen in der Kälte am Ems-Jade-Kanal. Die habe immer geschimpft über die Politik und über die SPD und über den Schulz und irgendwann habe Hannelore gesagt: Noch ein Wort und sie trete denen bei. „Ja, und dann fiel noch ein Wort. So kam das.“
Alle sind jetzt weg. Steffen Haake sitzt noch im alten Schleusenwärterhaus. Er hat aufgeräumt und noch ein paar rote Johann-Saathoff-Kugelschreiber übrig behalten, die Wirtin kann welche gebrauchen. „Die SPD muss sich ändern, wenn sie weiter bestehen will“, sagt er. Überall, auch in Ostfriesland. Jünger müsse sie werden, mehr Frauen müssen mitmachen. Quoten für jüngere Politiker, nicht immer die Ochsentour von unten nach oben, die einen verbiege. Die Urwahl des/der Vorsitzenden, insgesamt offener sein und ran an die Leute. Es arbeitet in ihm. Der Koalitionsvertrag? Ja oder nein? Wie steht es mit ihm? Was tippt er? „Ein Dilemma“, sagt er. „Es wird vermutlich auf ein Ja hinauslaufen.“ Ansonsten ist auch er einfach nur erschüttert über den Verfall seiner Partei: „Viele meiner ehemaligen Mitschüler sagen immer: Super, dass du was machst hier in Aurich. Super, obwohl du in der SPD bist.“
Aber Steffen Haake ist auch jemand, der nicht leicht zu beeindrucken oder zu erschrecken ist. „Wenn man etwas im Großen und Ganzen verändern will, muss man im Kleinen anfangen“, sagt er. „Man muss was tun.“ Und das ist nun mal bei ihm in Aurich, Ostfriesland, wo er sich im Stadtrat dafür einsetzt, dass endlich auch in Aurich Regenwassergebühren erhoben werden. Natürlich sind viele in der Stadt dagegen, natürlich ist es nicht leicht, den Leuten Geld abzuknöpfen. „So ein Gerechtigkeitsthema, wirklich unangenehm“, sagt er. Und fügt dann knapp und auch sehr ostfriesisch an: „Aber muss ja.“