Berlin. Rund zehn Monate nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa wollen Deutschland und die anderen Länder der Europäischen Union kurz vor dem Jahreswechsel mit den ersten Impfungen gegen das Virus beginnen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stellte am Freitag in Berlin die Impfordnung vor, die unter anderem regelt, wem wann das Angebot einer Impfung gemacht wird. „Wir können zu Beginn der Impfung nicht allen gleichzeitig dieses Angebot machen, weil es zu wenig Impfstoff gibt“, sagte er. Zunächst gehe er davon aus, dass im ersten Quartal elf bis 13 Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen. Da es besonders am Anfang nicht genug Impfstoff für alle geben wird, sind nach Spahns Plan die Menschen, die als erstes geimpft werden sollen, in drei Gruppen eingeordnet.
FDP und Grüne fordern Gesetz
Spahn hat eine Rechtsverordnung zur Verteilung des Impfstoffs vorgestellt, also eine Vorschrift aus der Exekutive. Wesentliche Entscheidungen, die Grundrechte berühren, müssen als Grundlage jedoch ein Gesetz haben, also eine Entscheidung der Legislative sein. Die FDP hat einen Entwurf vorgelegt, auch die Grünen meinen, dass der Bundestag darüber abstimmen müsse. Unterstützung bekommen sie vom Wissenschaftlichen Dienst des Parlaments: „Der überwiegend vertretenen Auffassung, wonach die Priorisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen beim Zugang zu Impfstoffen eines förmlichen Gesetzes bedarf, das zumindest die wesentlichen Kriterien für die Verteilung eines knappen Impfstoffes regelt, ist zuzustimmen“, heißt es in einem Gutachten.
Grund dafür ist die zentrale Bedeutung des Impfstoffs für Leben und Gesundheit und die Monopolstellung des Staates, über die Verteilung zu entscheiden. Die Regierung kann sich bei ihrem Vorgehen allerdings auch auf ein Gesetz berufen, das kürzlich erlassene „Dritte Bevölkerungsschutzgesetz“, das den Erlass von Rechtsverordnungen für die Impfstoff-Verteilung vorsieht. Ob die gesetzlichen Grundlagen im Hinblick auf die Bedeutung der Priorisierung ausreichend differenzieren, werden absehbar Gerichte entscheiden müssen.
In den USA werben große Unternehmen dafür, dass ihre Mitarbeiter schnellstmöglich geimpft werden. So hat Amazon die US-Regierung in einem Brief gebeten, bei der Impfung besonders wichtige Angestellte wie Mitarbeitende in Warenlagern und Datenzentren zu bevorzugen; diese könnten nicht von zu Hause aus arbeiten. Der Einzelhändler-Verband US National Retail Federation hatte bereits eine ähnlich lautende Bitte eingereicht. Auch in Deutschland sind die Impfpläne von Bund und Ländern vielen Unternehmern nicht ambitioniert genug. In der Gesundheitsbranche bezweifelt man allerdings, dass Hilfe aus der Wirtschaft notwendig ist. Mit Blick auf die medizinische Infrastruktur in Deutschland gebe es keinen Engpass, sondern allenfalls beim Impfstoff selbst, heißt es von Experten. Probleme gebe es nur, solang einzig der Biontech-Impfstoff zur Verfügung stehe, weil der bei Minus 80 Grad Celsius gelagert werden müsse. Dass private Initiativen die dafür nötige Infrastruktur schaffen können, wird in der Branche bezweifelt. Sobald der Impfstoff von Moderna verfügbar sei, der nicht so kühl gelagert werden müsse, könne der Impfstoff auch in Arztpraxen gespritzt werden. Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zufolge könnte die Impfung dann in fünf Monaten flächendeckend durchgeführt werden.
Die nationale australische Fluggesellschaft Quantas hat es schon klargestellt: Sobald ein Impfstoff verfügbar sei, würden die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Airline angepasst. Zumindest Passagiere auf Interkontinentalverbindungen müssten dann geimpft werden.
Mit Blick auf den Abschluss von Beförderungsverträgen weist das Bundesjustizministerium auf teilweise bestehende gesetzliche Kontrahierungszwänge hin. So nennt man die Pflicht eines Unternehmens, mit einem Kunden einen Vertrag abschließen zu müssen. Solche Regeln gibt es unter anderem im Allgemeinen Eisenbahngesetz und im Luftverkehrsgesetz. Daraus folgt aber noch nicht, dass es unzulässig sein muss, Reisende ohne Impfbestätigung abzuweisen. Teilweise könnten sich die Unternehmen auf Ausnahmebestimmungen berufen. Eine wichtige Rolle werden auch nationale Einreisebestimmungen spielen.
Diese Gruppen haben Vorrang
Gruppe 1: Höchste Priorität
Personen, die das 80. Lebensjahr vollendet haben; die in stationären Einrichtungen gepflegt oder betreut werden oder tätig sind; die in ambulanten Pflegediensten ältere oder pflegebedürftige Menschen betreuen; Personal in medizinischen Einrichtungen mit einem sehr hohem Infektionsrisiko, besonders in Intensivstationen, Notaufnahmen und Rettungsdiensten, der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, in Corona-Impfzentren; Personen, die in medizinischen Einrichtungen regelmäßig Personen mit sehr hohem Risiko für schwere Corona-Verläufe haben – besonders in der Krebsbehandlung oder Transplantationsmedizin.
Gruppe 2: Hohe Priorität
Personen, die das 70. Lebensjahr vollendet haben; Menschen mit sehr hohem oder hohem Risiko für einen schweren oder tödlichen Corona-Verlauf: mit Trisomie 21, Demenz oder geistiger Behinderung, nach Organtransplantation; enge Kontaktpersonen von Pflegebedürftigen und von Schwangeren; Beschäftigte, die geistig behinderte Menschen in Einrichtungen oder ambulanten Pflegediensten regelmäßig betreuen; Personal in medizinischen Einrichtungen mit hohem oder erhöhtem Corona-Ansteckungsrisiko, besonders Ärzte und sonstiges Personal mit regelmäßigem unmittelbarem Patientenkontakt, Personal in Blut- und Plasmaspendediensten, in Corona-Testzentren; Polizei- und Ordnungskräfte mit hohem Infektionsrisiko; Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitsdienst oder relevanten Positionen zum Aufrechterhalten des Klinikangebots; Bewohner und Personal in Gemeinschaftsunterkünften für Obdachlose und Asylbewerber
Gruppe 3: Erhöhte Priorität
Personen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben; mit erhöhtem Risiko für einen schweren oder tödlichen Corona-Verlauf: mit Adipositas (Body-Mass-Index über 30), chronischer Nieren- oder Lebererkrankung, Immunschwäche oder HIV, Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörung (Arrhythmie), Vorhofflimmern, koronarer Herzkrankheit, arterieller Hypertension (Bluthochdruck), Schlaganfall, Krebs, Asthma, Autoimmunerkrankungen, rheumatischen Erkrankungen; Personen in besonders relevanter Position des Staates, Regierungen und Verwaltungen, Streitkräften, Polizei, Zoll, Feuerwehr, Justiz, Katastrophenschutz mit Technischem Hilfswerk; Personen in besonders relevanter Position in weiteren Einrichtungen und Unternehmen wie Apotheken, Pharma, Ernährungsbranche, Wasser-, Energie- und Abfallwirtschaft, Transport- und Verkehrswesen, Informationstechnik und Telekommunikation; medizinische Einrichtungen mit niedrigem Infektionsrisiko, Lebensmitteleinzelhandel; Erzieherinnen, Lehrkräfte; Personen mit prekären Arbeits- oder Lebensbedingungen