Herr Scheuch, Sie gelten als "Aerosol-Papst" und seit gut einem Jahr ein äußerst gefragter Gesprächspartner. Wie viele Interviews haben sie in den vergangenen Monaten geführt?
Gerhard Scheuch: Ich habe nicht mitgezählt, aber ich erinnere mich an eine Woche mit 45 Interviews.
Zuvor wird vermutlich in erster Linie die Fachöffentlichkeit gewusst haben, wer Gerhard Scheuch ist.
Ich forsche seit 40 Jahren auf dem Gebiet der Aerosol-Medizin, war sechs Jahre lang Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosolmedizin (ISAM) und hatte damit das Glück mich mit international führenden Wissenschaftlern auszutauschen. Dabei ging es vor allem darum, wie sich Aerosolteilchen auf die Lunge auswirken oder wie Medikamente beschaffen sein müssen, damit ihre Wirkstoffe in die Lunge gelangen. In den vergangenen zehn bis zwölf Jahren habe ich mich intensiv mit Influenza-Medikamenten beschäftigt. Aber das Interesse an meiner Arbeit und an Aerosolen war noch nie so groß wie zurzeit.
Die meisten Bürger werden vor wenigen Monaten auch nicht gewusst haben, was Aerosole sind.
Gewiss nicht. 98 Prozent konnten mit dem Begriff nichts anfangen, selbst Fachleute gebrauchen ihn teilweise heute noch falsch. Das war eigentlich das Hauptmotiv, dass ich mich irgendwann zu Wort gemeldet habe.
Dann erläutern Sie den Begriff doch bitte noch einmal.
Ganz prinzipiell ist ein Aerosol nichts anderes als ein Gemisch aus Luft oder einem anderen Gas und irgendwelchen kleinen Teilchen. Wir leben in einem Aerosol, nämlich nicht in reiner Luft, sondern sind immer umgeben von Aerosolteilchen, von Staub oder Tröpfchen. Das sieht man sehr gut, wenn die Sonne schräg ins Zimmer scheint, dann glitzern die Aerosolteilchen auf. Nebel ist ebenfalls ein Aerosol, Zigarettenrauch auch.
Sie forschen auch zur Übertragung von Grippeviren. Wo liegt der Unterschied zu Coronaviren, insbesondere der Delta-Variante?
Die Viren werden genauso übertragen, nicht nur durch Husten und Niesen, sondern hauptsächlich auch über den Atem. Die Lunge erzeugt kleinste Aerosolteilchen, in denen sich die Viren befinden und die mit ausgeatmet werden. Das hat man erst in den vergangenen 15 Jahren nach und nach erkannt. Der Unterschied zur hochansteckenden Delta-Variante besteht nicht im Übertragungsweg, sondern in den Folgen der Ansteckung für den Körper. Wir vermuten im Augenblick, dass die Deltavariante so infektiös ist, weil der Körper mehr dieser Viren produziert und damit mehr Viren ausgeatmet werden. Außerdem scheint man länger ansteckend zu sein. Dadurch steckt man mehr Menschen an.
Sie wurden vor wenigen Tagen in der "Welt" mit der Feststellung zitiert, die Masken seien zu einer Art Symbol oder Dogma geworden. Was meinen Sie damit?
Die Wirkung der Masken wird überschätzt. Das Tragen von Masken gaukelt eine falsche Sicherheit vor. Man glaubt, wenn man eine Maske trägt, sei man vor Infektionen ganz sicher. Das ist ein Trugschluss. Ich habe vor Kurzem mit einigen Medizinern gesprochen, die mir berichtet haben, dass es in einigen Kliniken ganz erhebliche Probleme gibt, weil sich Mitarbeiter infiziert haben, obwohl sie mit Masken geschützt waren. Sie schützen eben nicht zu 100% sondern nur zu einem Teil. Masken sind ein Symbol: Sie erinnern uns an die Ansteckungsgefahr. Das ist vermutlich der Haupteffekt. Er ist vermutlich effektiver als die Maske selbst.
Insofern macht die Maskenpflicht Sinn?
Das Maskentragen ist sinnvoll, es hat sicher viele Infektionen verhindert. Gerade in Innenräumen oder auch in öffentlichen Verkehrsmitteln sind sie notwendig. Aber unter freiem Himmel oder beim Fahrradfahren - das macht keinen Sinn. Ich halte es auch für einen Fehler, auf FFP2-Masken zu setzen.
Warum?
Dabei handelt es sich um Arbeitsschutzmasken. Sie sind nicht für eine Pandemie gedacht. Wenn man sie richtig aufsetzt, kann man sie nicht allzu lange tragen, weil sie den Atemwiderstand erheblich erhöhen. Deshalb soll man sie höchstens 75 Minuten tragen und dann eine Maskenpause machen. Auch die sogenannten chirurgischen Masken sind nicht für eine Pandemie gedacht. Die Schweizer haben jetzt eine Norm für Pandemiemasken entwickelt. In Deutschland arbeitet eine Gruppe von Ingenieuren daran. Bevor es Masken nach dieser Norm gibt, behelfen wir uns mit einer Übergangslösung, die nicht optimal ist.
Viele Bürgerinnen und Bürger tragen die Masken offensichtlich auch nicht richtig, teilweise weiterhin unter der Nase oder sie stehen vom Gesicht ab.
Richtig, ich vermute, dass der geringste Anteil der Masken richtig sitzt. Schon allein, um das Atmen zu erleichtern, werden sie oft falsch getragen. Immer wenn die Brille beschlägt, sitzt die Maske nicht so, wie sie sitzen sollte. Die meisten Menschen haben auch keine Anleitung bekommen. Sie kaufen sich irgendwo eine Maske oder bekommen sie geschenkt, setzen sie irgendwie auf und denken, damit hätten sie genug Vorsorge getroffen. Das ist ein Irrtum.
Sie haben in dem Gespräch mit der "Welt" auch gesagt, dass Deutschland besonders ängstlich sei. Inwiefern?
Wenn man sich die Corona-Politik in anderen Ländern ansieht, kann man sehen, dass in Deutschland besonders schnell die Notbremse gezogen wird, wenn die Inzidenzen steigen. Bei 100 Ansteckungen unter 100.000 Einwohnern in der Woche wurden die Kontakte beschränkt, in England lag die Inzidenz bei 660, in der Schweiz bei über 600, in Portugal über 1075, die Einschränkungen waren dennoch geringer. Die deutsche Ängstlichkeit hilft uns, weil wir viel früher reagieren. Doch der wichtigste Parameter, der dazu führt, dass sich die Pandemie nicht ausbreitet, ist das Verhalten der Menschen. Wer Angst hat, verhält sich anders, geht weniger einkaufen, meidet den öffentlichen Nahverkehr. Dadurch sinken die Infektionen. Sie steigen, wenn man wieder unvorsichtig wird. Es handelt sich um ein chaotisches System, ist also nicht vorhersehbar, um unzählige kleine Cluster, die das Pandemie-Geschehen bestimmen und die Inzidenzen an- und abschwellen lassen. Die Rechenmodelle unterschätzen das individuelle Verhalten.
Ihre Anmerkung, dass die Deutschen ängstlich seien, war aber nicht unbedingt positiv gemeint, oder?
Nein. Wir haben vor wenigen Wochen eine Chance verpasst. Wir hatten bundesweit einstellige Inzidenzen, da hätte die Politik reagieren müssen. Man muss Maßnahmen irgendwann auch wieder zurücknehmen. Das scheint eine große Herausforderung für die künftige Corona-Politik zu sein: dass man wagt, Auflagen wieder zurückzunehmen. Regeln einführen geht schnell, davon wegkommen, ist schwierig, wie der Wissenschaftsautor Ranga Yogeshwar schon vor über einem Jahr anmerkte.
Unbeantwortet scheint weiterhin die zentrale Frage, wo sich die meisten Menschen anstecken. Familienfeiern und Urlaubsreisen werden genannt, es gibt nachweisliche Ausbrüche in Pflegeheimen oder Schulklassen. In geschlossenen Räumen verbreitet sich das Virus rasant, aber Details liegen im Dunkeln.
Es hieß, bei Inzidenzen unter 35 können die Gesundheitsämter nachverfolgen, wer sich wann bei wem ansteckt. Aber das hat offensichtlich überhaupt nicht funktioniert, sonst würden die Werte nicht wieder steigen. Wie soll man Kontakte nachverfolgen, wenn die Infizierten nicht wissen, wo sie sich angesteckt haben könnten? Das kenne ich aus meinem unmittelbaren Umfeld: Bekannte haben sich infiziert, obwohl sie sich sehr vorsichtig verhalten haben. Man kann nur vermuten, dass sie sich in einem Raum aufgehalten haben, indem vorher jemand war, der Viren verbreitet hat, ohne das zu ahnen. Das kann Stunden später gewesen sein, weil die Aerosole nicht mit den Menschen den Raum verlassen. Ich bin kein Epidemiologe, aber meine Prognose ist, dass wir im Herbst wieder dreistellige Werte erreichen, die dann schnell wieder sinken. Dieses Auf und Ab werden wir vermutlich nicht vermeiden können.
In einigen Bundesländern hat der Schulunterricht wieder begonnen, in anderen, wie in Bremen und Niedersachsen, enden die Ferien in wenigen Tagen. Über den richtigen Schutz für Schüler und Lehrer wird bundesweit gestritten. Was raten Sie?
Bei den jetzigen Temperaturen kann man bei geöffneten Fenstern unterrichten, das ist schon sehr hilfreich. Außerdem sollten die Klassenräume mit Raumluftfiltern ausgestattet werden. Das müssen nicht die teuersten sein. Wenn die Inzidenzen wieder dramatisch ansteigen, werden die Schulen um Wechselunterricht nicht herumkommen. Ich empfehle auch, die Unterrichtszeiten auf 30 Minuten zu verkürzen und dann eine Pause zu machen, um ordentlich zu lüften. Damit lässt sich das Infektionsrisiko halbieren. Die Zeit, die man in einem Raum verbringt, spielt bei der Ansteckung eine große Rolle.
Was sollte die Bevölkerung im Herbst beherzigen?
Man sollte sich die Inzidenz in seiner Kommune verfolgen und sich entsprechend verhalten. Sind die Werte hoch, sollten man sich sehr gut in Acht nehmen. Wenn sie niedrig sind, ist das Ansteckungsrisiko geringer. Außerdem sollte man bedenken, dass die eigene Impfung womöglich nicht davor schützt, andere anzustecken und dass man sich in seltenen Fällen auch selbst infizieren kann.
Sie haben gegenüber der "Neuen Zürcher Zeitung" gesagt, die Aerosolforscher seien zu lange still gewesen. Was meinten Sie damit?
Wir haben im Herbst vergangenen Jahres ein Positionspapier vorgelegt, das sich mit der Rolle der Aerosole bei der Verbreitung des Virus beschäftigt. Die internationalen Forscher waren mutiger und sind früher an die Öffentlichkeit gegangen. Ich habe schon im Mai 2020 Kontakt zum Robert Koch-Institut gesucht, aber bis unsere Erkenntnisse in die Corona-Strategien eingeflossen sind, was zur Maskenpflicht geführt hat, hat es im Nachhinein betrachtet doch etwas zu lange gedauert. Seit diesem Jahr publiziere ich einen eigenen wöchentlichen Video-Podcast zum Thema Aerosole, um ein besseres Verständnis in der Bevölkerung zu schaffen.
Die Pandemie hat der Wissenschaft einen neuen Stellenwert verschafft, das gilt vor allem für die öffentliche Aufmerksamkeit. Allerdings scheinen an Wissenschaftler auch sehr hohe Erwartungen gestellt zu werden - zu hohe?
Ich glaube, dass die Wissenschaft in der Bevölkerung größere Anerkennung gefunden hat. Aber die Bürger haben auch lernen müssen, dass Forschung ein Prozess ist. Wissenschaftler müssen ihre Erkenntnisse ständig anpassen. Sie haben kein Wissen, sie schaffen es. Das heißt, dass sie Einschätzungen auch revidieren müssen, dass sie auch mal einräumen müssen, dass sie sich geirrt haben. Dazu gehört auch, dass Wissenschaftler unterschiedliche Einschätzungen haben können. Das ist der Bevölkerung nicht leicht zu vermitteln. Sie erwartet klare Fakten, klare Regeln, Sicherheiten. Sie hat Erwartungen, die man als Wissenschaftler nicht erfüllen kann.