Von Bertold Brecht stammt der ironische Rat an die Führung der DDR, nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 das Volk aufzulösen und ein Neues zu wählen. Genau das könnte im übertragenen Sinne passieren, wenn der Supreme Court den Fall „Moore gegen Harper“ zum Anlass nimmt, den Parlamenten der 50 Bundesstaaten das absolute Recht zuzusprechen, die Durchführung der Wahlen zu bestimmen. Ohne Kontrolle durch Gerichte oder die Möglichkeit des Gouverneurs, ein Veto einzulegen.
Im konkreten Fall geht es um die Neugestaltung der Wahlkreise in North Carolina. Die republikanische Mehrheit im Parlament hatte die Stimmbezirke so parteiisch zugeschnitten, dass der staatliche Supreme Court eine Überarbeitung verlangte. Die nun vor dem Obersten Gerichtshofs in Washington anhängige Klage behauptet, die Entscheidung des Parlaments könne von niemandem infrage gestellt werden.
Die Republikaner in North Carolina berufen sich auf eine bisher randständige Rechtstheorie, die in Fachkreisen als „Independent State Legislature Doctrine“ (ISL) bekannt ist. Die ISL behauptet, der Absatz in der US-Verfassung müsse eng ausgelegt werden, in dem es heißt: „Die Orte, Zeiten und die Art und Weise der Wahlen von Senatoren und Abgeordneten sollen in jedem Bundesstaat vom dortigen Gesetzgeber bestimmt werden.“ In einer separaten Passage heißt es, die Verfassung bestimme, dass die Durchführung der Präsidentschaftswahlen von den „staatlichen Gesetzgebern“ festgelegt werden soll.
Das englische Wort „Legislature“ für Gesetzgeber war in der höchstrichterlichen Rechtssprechung seit dem Fall „Davis gegen Hildebrant“ im Jahr 1916 stets als die Gesamtheit der an der Gesetzgebung beteiligten Organe der Regierung, also Legislative, Exekutive und Judikative interpretiert worden. „Nur so ergeben die Verfassungsbestimmungen Sinn“, schreiben die Staatsrechtler Vikram David Amar und Akhil Reed Amar, zwei Brüder, die an der University of Illinois und der Elite-Universität Yale lehren.
Der US-Supreme Court hatte diese Lesart in einem Rechtsstreit in Arizona 2015 bestätigt. Doch seitdem hat sich die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs verändert. Er wird jetzt dominiert von sogenannten Originalisten, die überzeugt sind, die Verfassung müsse wörtlich ausgelegt werden. Die Richter Samuel Alito, Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Clarence Thomas haben in der Vergangenheit angedeutet, die Verfassungsväter hätten den Begriff „Gesetzgeber“ tatsächlich sehr eng verstanden.
Dass diese vier erzkonservativen Richter für die Annahme des Falls „Moore gegen Harper“ gestimmt hatten, wird von Analysten als Alarmsignal verstanden. Zumal sich die nicht weniger weit rechts stehende Richterin Amy Coney Barrett bisher an den vier „Originalisten“ orientiert hatte. An ihr dürfte nicht weniger als die Zukunft der Demokratie in Amerika hängen, da die drei liberalen Richterinnen Sonia Sotomayor, Elena Kagan und Ketanji Brown Jackson sowie der moderate Chef des Gerichts, John Roberts, die Klage abweisen dürften.
Verhandelt wird der Fall im kommenden Herbst, das Urteil steht dann im Frühjahr 2023 an. Damit könnte es Auswirkungen auf die Präsidentschafts- und Kongresswahlen im Folgejahr haben. Falls der Supreme Court den Klägern recht gibt, hängen die praktischen Konsequenzen auch davon ab, wie weit das oberste Gericht geht.
Da die Republikaner in 30 Bundesstaaten die alleinige Mehrheit in den Parlamenten haben, könnten sie das als „Gerrymandering“ bekannte parteiische Zuschneiden der Wahlbezirke nach Herzenslust fortsetzen – wie die Demokraten in den 17 Staaten, deren Parlamente sie kontrollieren. Der Begriff geht auf den Gouverneur von Massachusetts, Elbridge Gerry, zurück, der 1812 einen Wahlkreis zu seinen Gunsten gestaltete. Dank der sozioökonomischen Daten aus der Volkszählung ist das heute sehr viel einfacher. Gesetzgeber haben damit ein Instrumentarium an der Hand, das ihnen erlaubt, sich ihre Wählerschaft sprichwörtlich auszusuchen.
Das Ergebnis werden immer mehr Distrikte sein, deren Grenzen so aussehen, als seien sie von hyperaktiven Kindern gezogen worden. „Sie können entweder blind oder fair sein, wenn sie die Wahlkreise aufteilen“, bringt der Rechtsgelehrte Nate Persily von der Stanford University das Dilemma auf den Punkt. „Aber sie können nicht beides sein.“ Das erklärt, warum schon jetzt nur noch zehn Prozent aller Wahlkreise bei den Kongresswahlen wirklich umkämpft sind.
Die weiterreichende Sorge von Experten wäre ein Supreme Court-Urteil, das staatlichen Parlamenten umfassende Rechte bei den Präsidentschaftswahlen einräumt. Das entspräche der Rechtsauffassung des mutmaßlichen Mitverschwörers des Kapitolsturms vom 6. Januar, John Eastman, der Donald Trump einredete, die Bundesstaaten hätten die Möglichkeit, den Willen der Wähler im Zweifel zu ignorieren und eigene Wahlleute für die Abstimmung im Wahlleute-Kollegium zu entsenden.
Dies wäre das Szenario, das nach Ansicht von Pessimisten das Ende der Demokratie in Amerika bringen könnte. Vielleicht kommt aber auch alles ganz anders und der Supreme Court schiebt dem schamlosen „Gerrymandering“ einen Riegel vor.