Auch wenn die Europäische Union eine erholsame Sommerpause mit Abstand von den Reibereien dringend bräuchte – sie wird sie nicht bekommen. Die Auseinandersetzungen im Inneren haben sich in den vergangenen Wochen beispiellos hochgeschaukelt. Brüssel stoppte die von Polen und Ungarn eingereichten nationalen Ausgabenpläne, mit denen Warschau und Budapest die ihnen zustehenden Gelder aus dem Corona-Aufbaufonds beantragt hatten. Beide Staaten demontieren Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und hinterließen Zweifel daran, dass die europäischen Gelder auch ordnungsgemäß verwendet würden.
Von außen mokiert sich der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko über das „warme und bequeme Europa“, in das er zuvor angeworbene Migranten illegal weiterreisen lässt. Der dringend benötigte Gesprächsfaden mit Russland wurde von den Staats- und Regierungschefs auf Eis gelegt. Die Beziehungen zu China funktionieren nur, wenn es um Geschäfte geht. Und im Mittelmeer ertrinken weiter Hilfesuchende, weil es weiter keinen Draht in die Türkei gibt, um den Flüchtlingsdeal neu aufzulegen.
Die Bilanz ist niederschmetternd für den Kontinent, der sich wie kein Zweiter aufgemacht hatte, aus seinen dunklen Kapiteln zu lernen und als Gegenentwurf eine Union aufbaute, die zu einem Raum des Friedens, der Freiheit und des Rechts werden sollte. Viel steht inzwischen auf dem Spiel. Um sich zu wehren, greifen die Außenminister ein ums andere Mal zu Sanktionen, die zwar Nadelstiche und keineswegs leicht zu verkraften sind. Aber sie bestärken anti-europäische Kräfte eher, als dass sie zum Umdenken führen. Das gilt für Russland ebenso wie für Belarus oder China.
Die Kritiker und Gegner beobachten mit stillem Vergnügen, wie sich die Gemeinschaft selbst zerlegt. Das vom ungarischen Premier propagierte Projekt einer illiberalen Demokratie ist zwar genau genommen ein Widerspruch, weil Demokratie von ihrem tiefsten Anspruch her nicht illiberal sein kann. Die Idee zieht trotzdem Kreise, vor allem dort, wo Regierungen in der Freiheit des Denkens, Handelns und Lebens eine Gefahr sehen. Die viel gepriesene Wertegemeinschaft durchzieht ein ideologischer Graben, den die EU-Institutionen weder mit Vertragsverletzungsverfahren noch mit Gerichtsurteilen überwinden werden. Beides wird als Versuch gedeutet, nach der Diktatur der Vergangenheit einer neuen Vormundschaft unterworfen zu werden – so unsinnig dies auch ist. Was auch immer in Brüssel entschieden wird, basiert auf 27 Ja-Stimmen.
Bei der Suche nach einer Lösung hat die Diskussion um einen Rauswurf der Widerständler zwar Drohpotenzial, aber nicht mehr, weil es dafür kein Instrument gibt. Dieser EU bleibt somit in dieser Krise nur ein Weg: Sie muss vorangehen. Natürlich sind die Schlagworte vom „Kerneuropa“ oder vom „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ keine reizvolle Perspektive. Aber wenn die europäische Integration von ihren Gegnern gelenkt wird, ist dies das langsame Ende der Union. Also werden sich die starken Gründerstaaten, die überzeugten Europäer, die Auftrag und Chancen verstanden haben, absetzen müssen.
Eine neue Eurosklerose ist kein Modell. Dies kann nur eine Vertiefung der europäischen Einigung sein, ein neues Kapitel des Miteinanders. Das muss keine weitere Zentralisierung der Gemeinschaft sein – mit einer EU-Regierung. Dafür gibt es heute keine Mehrheiten. Aber die Entwicklung dieses Bündnisses über einen reinen Binnenmarkt hinaus zu einer politischen und wirtschaftlichen sowie sozialen Union ist ein Konzept, bei dem einige vorangehen und andere zurückbleiben könnten, ohne sie zu verlieren. Auch, wenn sie nur Mitglieder zweiter Klasse wären. Es ist der einzige Weg, aus Europa wieder ein Modell zu machen, den Grundwerten wieder Gültigkeit zu geben und Verantwortung füreinander nicht zu einem Kalenderspruch verkommen zu lassen.
Das ist alles leichter gesagt als umgesetzt. Auch Deutschland hat weitere Integrationsschritte in den zurückliegenden Jahren ausgebremst. Aber wenn die vergangenen Monate etwas gezeigt haben, dann das: Die EU verstrickt sich immer mehr in sich selbst, anstatt die Herausforderungen anzugehen, die nur gemeinsam zu bestehen sind. Genau das erwarten die Bürger von dieser Union.