Es wird gemeinhin angenommen, dass sich bei Parteitagsreden die Begeisterung der Delegierten an der Länge des Beifalls ablesen lässt. Was also sollte es bedeuten, dass nach Ursula von der Leyens Auftritt in der gigantischen Messehalle Romexpo am Stadtrand von Bukarest nach rund einer Minute schon wieder Ruhe einkehrte? Zahlreiche Plätze in dem Kuppelsaal waren leergeblieben, was die Organisatoren mit blauem Scheinwerferlicht geschickt zu kaschieren versuchten.
Dabei hatte die Deutsche am gestrigen Donnerstagmittag ihre Bewerbungsansprache gehalten vor den Delegierten der Europäischen Volkspartei (EVP), jenem Zusammenschluss der christlich-demokratischen und bürgerlich-konservativen Parteien Europas. Es sollte ein feierlicher Moment werden, den Partei- und Fraktionschef Manfred Weber auf großer Bühne einleitete mit dem Versprechen, die EVP sei mit ihr "in guten Händen".
Von der Leyen liefert dann in ihrer Pflichtrede, was ihre "dear friends" inhaltlich von ihr erwarten – die Stichworte heißen Wohlstand, Sicherheit und Demokratie –, ohne gleichzeitig ihre Erfolge, etwa beim Klimaschutz, der vergangenen fünf Jahre zu verraten. Die 65-Jährige definierte als Gefahren von außen die aggressive Wirtschaftspolitik Chinas und den Aggressor Wladimir Putin, auf den in Den Haag "ein Gerichtssaal" warte, und jene Risiken von innen durch Extremisten und Populisten, die Europa zerstören wollten.
Ordentliches Abstimmungsergebnis
Im Anschluss wurde die CDU-Politikerin wie erwartet zur Spitzenkandidatin für die Europawahlen Anfang Juni gekürt in einem Prozess, der weniger Wahl als Krönungsmesse von "Königin Ursula" war, wie manche im Publikum spöttisch anmerkten. Von 801 Wahlberechtigten sprachen sich 400 für von der Leyen aus, 89 lehnten ihre Nominierung ab. Zehn Stimmen waren ungültig. Ein ordentliches Ergebnis – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die EU-Kommissionspräsidentin ging damit den nächsten Schritt auf dem Weg zu einer zweiten Amtszeit an der Spitze der Brüsseler Behörde.
Während einige Konferenzteilnehmer, insbesondere aus Osteuropa, Schlange standen für ein Selfie mit dem unnahbaren Politstar von der Leyen, rebellierten unter anderem die Österreicher und Franzosen. Zu grün, zu bauernfeindlich, zu wenig konservativ – die Republikaner aus Frankreich sagten "Non" zu der Deutschen. Das liegt auch an ihrem Prestigeprojekt, dem Grünen Deal. Vielen Konservativen gingen die klimapolitischen Ambitionen der Deutschen zu weit. Umso versöhnlicher klang von der Leyen in der rumänischen Hauptstadt. Weniger Bürokratie soll es künftig geben, mehr Gestaltungsfreiheiten für Unternehmer – und mehr Anerkennung für die Bauern. "Ihre Arbeit muss sich auszahlen", sagte die CDU-Frau und schmierte Balsam auf die christdemokratische Seele: Die EVP werde "immer auf der Seite der Landwirte stehen".
"Europa ist so wertvoll"
Von der Leyen ist nicht nur geschickte Machtpolitikerin, sondern Meisterin der Inszenierung. So geizte sie bei ihrer Rede wie üblich nicht mit Pathos, indem sie etwa erzählte, wie sie als Mutter ihren sieben Kindern stets die gleiche Geschichte erzählt, die ihr Vater ihr am Küchentisch unter dem Eindruck seiner Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg auf den Weg mitgegeben hat: "Europa ist so wertvoll. Wir müssen uns darum kümmern, weil es alles ist, was wir haben."
2019 hat es die Niedersächsin ohne Kampagnenanstrengungen an die Spitze der EU-Kommission geschafft. Damals setzten die Staats- und Regierungschefs sie als Präsidentin gegen ein zerstrittenes EU-Parlament durch. Nun muss sie kämpfen, überzeugen, polarisieren. Und die Parteijacke zwickt nach fünf Jahren im Berlaymont noch. Gleichwohl wusste sie, welche Knöpfe sie bei den wichtigen EVP-Staats- und Regierungschefs zu drücken hatte. So präsentierte sie sich etwa auf Linie beim Dauerstreitthema Migration. "Wir Europäer entscheiden, wer nach Europa kommt, nicht die organisierten Menschenschmuggler", sagte sie. Im Detail wollte sie sich bei ihrer Rede aber nicht mit der umstrittenen Forderung im Wahlprogramm aufhalten, Asylverfahren in "sichere Drittstaaten" auszulagern.
Unionsparteien am Programm beteiligt
In dem 24-seitigen Manifest, das am Tag zuvor angenommen wurde, heißt es: "Wer in der EU Asyl beantragt, könnte auch in ein sicheres Drittland überstellt werden und sich dort dem Asylverfahren unterziehen." Der Drittstaat müsse einen Mindestschutz im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllen. Hinter den Kulissen war zu vernehmen, dass CDU und CSU den Paragrafen in das Programm diktiert haben. Die EU-Kommission verfolgte bislang eine andere Linie. Und jetzt? "Ursula von der Leyen ist unsere Spitzenkandidatin. Also werden alle programmatischen Positionen der EVP auch von Ursula von der Leyen geteilt", betonte Weber.