Herr Weber, wie bewerten Sie die derzeitige Lage in der Ukraine?
Manfred Weber: Wladimir Putin hat seine Maske fallen lassen. Mit seiner Entscheidung verschiebt er auf europäischem Grund und Boden Grenzen, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr der Fall war. Vieles, was seitdem an gemeinsamem Verständnis gewachsen ist, ist jetzt Makulatur.
Kann man die Diplomatie als gescheitert erklären?
Diplomatie kommt an ihre Grenzen bei einem Politiker, der zu allem entschlossen ist, der 150.000 Soldaten aufmarschieren lässt und sich aus machtpolitischen Gründen um die Schicksale von Betroffenen nicht schert. Aber natürlich muss eine diplomatische Lösung immer das erste Ziel sein.
Und jetzt?
Das erste Sanktionspaket ist richtig. Damit macht der Westen deutlich, dass wir konkret gegen die Wirtschaftsstrukturen vorgehen. Aber ich wünsche mir, dass wir auch Putin treffen. Er hat entschieden, Völkerrecht zu brechen, deshalb muss auch er spüren, dass es so nicht geht.
Müsste die EU nicht noch viel weiter gehen?
Es ist gut, dass sich die westliche Gemeinschaft abstimmt. Die Vorbedingung für unsere Stärke ist Geschlossenheit. Wir müssen uns im Klaren sein, dass das wahrscheinlich nicht der letzte Schritt von Putin ist. Spätestens wenn es zu unmittelbaren russischen Angriffen kommt, muss das gesamte Sanktionspaket auf den Tisch.
Was braucht es außer Sanktionen noch?
Wir als Europäer müssen uns bewusst machen, dass wir in eine neue Welt kommen, dass es Machthaber gibt, die bereit sind, Tote und Zerstörung zu akzeptieren, um vermeintlich historische Ziele zu erreichen. Vor diesem Hintergrund wird diese Krise uns die zentrale Frage stellen: Wollen wir in außen- und sicherheitspolitischen Fragen endlich aufstehen und sprechfähig werden, um souverän zu sein, oder bleiben wir innerlich geblockt?
Das heißt, die EU sollte schnell Lehren aus der Krise ziehen?
Wir gehen die Sache gemeinsam an, obwohl wir intern viele Spannungen haben. Aber wir sind auf die Stürme der Weltpolitik in keiner Weise vorbereitet. Das ist die Grundbotschaft. Das haben uns schon Afghanistan, Syrien oder Libyen gezeigt. Europa braucht angesichts der Herausforderungen einen Verteidigungspfeiler. Die größte Bedrohung für Putin sind Freiheit und Demokratie, nicht Nato-Soldaten. Deshalb wird er weitergehen. Wenn er wie zurzeit scheibchenweise erfolgreich ist, dann wird er sich mehr und mehr der EU zuwenden, erst schwächeren Staaten wie den baltischen, dann uns. Er wird versuchen, unsere Art zu leben unter Druck zu setzen.
Ist der EU klar, dass das auch ihr Krieg ist?
Politik muss jetzt erklären. Ich verstehe, dass viele Menschen meinen, die Ukraine ist weit weg. Aber es geht nicht nur um die Ukraine, sondern um uns. Wir müssen über die weiteren Fakten reden, die mit der aggressiven russischen Politik verbunden sind. Da ist Putins Unterstützung für einen Diktator in Syrien, der Tiergartenmord, wir haben Cyber-Attacken gegen den Bundestag. Der hybride Krieg findet auf europäischem Boden statt. Dem muss politische Führung etwas entgegenhalten. Wer in Deutschland sagt, er möchte weiter in Frieden und Freiheit leben, muss jetzt an der Seite der Ukraine stehen.
Sollte Europa Teile seiner Politik überdenken? Stichwort Energie-Politik?
Die Lektion der letzten Monate ist, unabhängiger zu werden von russischem Erdgas. Als Deutsche müssen wir erkennen, was für eine historische Fehlentscheidung es war, anstatt auf Flüssiggas auf Nord Stream 1 und 2 zu setzen, weil das die Abhängigkeit gegenüber russischem Gas potenziert hat. Die europäische Energiepolitik muss darauf ausgerichtet sein, den Übergang zu regenerativen Energiequellen so schnell wie möglich und sozial ausgewogen zu schaffen. Deshalb motiviert uns das, beim Green Deal voranzugehen. Green Deal heißt auch: Unabhängigkeit von Russland, von arabischem Öl, von Flüssiggas aus Amerika.
War Deutschland zu lange zu neutral?
Olaf Scholz hat bis vor wenigen Tagen den Begriff Nord Stream 2 noch nicht einmal in den Mund genommen. Ich hätte mir viel früher einen klaren Kurs gewünscht. Ganz dramatisch war die Botschaft, dass Deutschland 5000 Helme in die Ukraine schickt. Dieser Vorgang hat ein Schlaglicht darauf geworfen, dass es seiner Führungsrolle nicht nachgekommen ist. Ich erinnere mich, dass wir vor ein paar Jahren Waffen an die Kurden im Nordirak geliefert haben im Kampf gegen Islamisten. Mit politischem Willen geht es. In der Ukraine reden wir davon, dass sich ein im Grundsatz demokratisches Land verteidigen will.
Führt uns die Krise vor Augen, dass Deutschland eine neue Außenpolitik braucht?
Deutschland muss endlich einen Beitrag dazu leisten, dass wir eine echte europäische Außenpolitik hinkriegen. Entweder wir kommen jetzt aus unserer Komfortzone heraus oder wir spielen in der Welt von morgen keine Rolle mehr. Das zeigen uns die jüngsten Krisen in aller Brutalität. Wir müssen in der Außenpolitik endlich die Einstimmigkeit abschaffen, wir brauchen den Aufbau einer europäischen Verteidigungsstruktur und einen echten EU-Außenminister, der für die vorhandene Kraft dieses Kontinents sprechen kann. Wenn das, was wir jetzt erleben, als Weckruf nicht reicht, dann weiß ich nicht, was reichen soll.
Das klingt nach ferner Zukunftsmusik.
Sanktionen zu diskutieren ist wichtig, aber die historische Situation aufzugreifen und zu sagen, wir brauchen eine Veränderung im Denken, Handeln und in den Strukturen, das sehe ich noch nicht. Meine größte Sorge gilt der fehlenden politischen Führung. Wir reden jetzt über Russland, in wenigen Monaten oder Jahren sprechen wir über China und Taiwan. Es kommt die große Frage auf uns zu, welches Gesellschaftssystem sich in der Welt durchsetzt. Auf diesen Wettbewerb sind wir nicht vorbereitet.
Das Gespräch führte Katrin Pribyl.