Emmanuel Macron hat sich in den vergangenen Wochen auf für ihn ungewöhnliche Weise aus dem politischen Tagesgeschäft herausgenommen, um seinen Regierungschef Michel Barnier unabhängig arbeiten zu lassen. Dessen Sturz am Mittwochabend durch ein Misstrauensvotum katapultiert den französischen Präsidenten nun wieder ins Zentrum des Geschehens. Es sei jetzt an Macron, „den Franzosen zu sagen, wie es weitergeht“, sagte der konservative Präsident des Senats, Gérard Larcher. „Wir befinden uns am Rande des Abgrunds“, warnte Ex-Premierminister Édouard Philippe. „Die große Unklarheit“, titelte die Tageszeitung „Le Parisien“. Erst zum zweiten Mal in der jüngeren Geschichte des Landes brachte die Opposition einen Premierminister zu Fall, zuletzt im Jahr 1962.
Nur drei Monate war Barnier im Amt, der am Donnerstagvormittag seinen Rücktritt einreichte. Er bleibt geschäftsführend auf seinem Posten, bis ein Nachfolger ernannt wird. Am Abend erklärte Macron in einer Fernsehansprache, dass er "in den nächsten Tagen einen Premierminister ernennen" wolle. Diesen werde er damit beauftragen, „eine Regierung des allgemeinen Interesses zu bilden“, die alle politischen Kräfte vertrete, die bereit seien, sich daran zu beteiligen oder sich zumindest verpflichteten, diese nicht mit einem erneuten Misstrauensvotum zu Fall zu bringen.
Der neue Premierminister werde eine kompakte Regierung bilden und seine Priorität werde der Haushalt für das kommende Jahr sein. Bis Mitte Dezember werde ein Sondergesetz im Parlament eingebracht zur Überbrückung der Zeitspanne, bis Anfang des kommenden Jahres der überfällige Haushalt beschlossen sei.
Zuvor hatte es geheißen, dass Macron nicht am Sonnabend zur Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame Dutzende Staats- und Regierungschefs aus aller Welt empfangen wolle, ohne über einen Premierminister zu verfügen. Als innenpolitisch geschwächt steht er mehr denn je da. Zwei Drittel der Franzosen wünschen laut einer Umfrage seinen Rücktritt. Rufe danach wurden auch schon aus den Reihen der Linken laut, die der 46-Jährige bislang als „Politik-Fiktion“ abtat. Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden regulär erst 2027 statt.
Als mögliche Nachfolger Barniers werden in erster Linie zwei Vertraute des Präsidenten gehandelt, nämlich der 38-jährige Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, ein ehemaliger Republikaner, sowie der Chef der Zentrumspartei François Bayrou, mit seinen 73 Jahren ein Urgestein der französischen Politik. Der sichtbar bestürzte Barnier sagte noch am Donnerstag, er wünsche dem künftigen Regierungschef „ganz ehrlich viel Glück“. Tatsächlich wird dieser großes Geschick an den Tag legen müssen, um der aktuellen Krise zu begegnen.
Begonnen hatte diese am Abend der EU-Wahlen im Juni, als Macron nach dem schlechten Abschneiden seiner Partei unerwartet vorgezogene Parlamentswahlen ankündigte. Diese führten im Juli zu einer neuen Aufteilung der Nationalversammlung in drei große Blöcke: ein Bündnis der linken und grünen Parteien, eines aus den Kräften der politischen Mitte sowie der rechtsextreme Rassemblement National (RN) als größte Einzelpartei. Während es Macrons Mitte-rechts-Regierung an einer Mehrheit fehlte, konnten sich nun die Linken und der RN zusammentun, um Barnier zu Fall zu bringen.
Obwohl der ehemalige EU-Kommissar als ausgefuchster Verhandler gilt, scheiterte er bereits an seinem ersten großen Projekt, dem Haushalt für das nächste Jahr. Um die hohe Staatsverschuldung von 3,2 Billionen Euro und das Defizit von rund sechs Prozent zu verringern, sah er Einsparungen und Steuererhöhungen in Höhe von 60 Milliarden Euro vor. Daraus wird nun nichts, doch in Frankreich ist kein Shutdown wie in den USA zu befürchten, da der Vorjahreshaushalt auf das nächste Jahr übertragen werden kann; allerdings droht die Ausgabenspirale weiter anzusteigen. Hatten die großen Ratingagenturen Frankreichs Note zuletzt nicht gesenkt, so warnte Moody’s, dass die aktuelle Krise „die Möglichkeit einer Sanierung der öffentlichen Finanzen verringert und dazu beiträgt, die Schuldzinsen zu erhöhen“. Diese lagen zuletzt zeitweise über jenen von Griechenland.
In seiner Fernsehansprache machte Macron auch seinem Ärger über die „Koalition der Verantwortungslosen“ Luft, wie er den Zusammenschluss von Linkspartei, Sozialisten, Grünen, Kommunisten und dem rechtsextremen RN nannte. Tatsächlich rächte sich das Linksbündnis dafür, dass er es übergangen hatte, obwohl es bei der Wahl die meisten Sitze erzielte. Stattdessen setzte er Barnier ein, weil ihm die RN-Fraktionsvorsitzende Marine Le Pen ursprünglich versicherte, diesem zumindest eine Chance zu geben.
Noch im September rühmte die Rechtspopulistin die „angeborene Höflichkeit“ des 73-jährigen Konservativen. Doch rasch verschlechterten sich die Beziehungen, auch wenn Barnier ihr gegenüber beim Haushaltsgesetz mehrere Zugeständnisse machte. Sie habe aber immer noch mehr gewollt, klagte er. Es habe sich um ein „ungerechtes“ Budget gehandelt, das die Ärmsten hart getroffen hätte, erklärte wiederum Le Pen. Das Scheitern des Gesetzes kommt allerdings in erster Linie den Gutverdienern und Großkonzernen zugute, die den geplanten Steuererhöhungen entgehen.
Es gilt als offenes Geheimnis, dass Le Pen Macrons Sturz wünscht. Sie selbst steht in den Umfragen bestens da, fürchtet aber das Urteil im Prozess wegen der Veruntreuung von EU-Geldern am 31. März, bei dem ihr als Strafe eine mehrjährige Nichtwählbarkeit droht. Sie könnte versuchen, dem zuvorzukommen und Macron möglichst rasch zum Rücktritt zu zwingen – auch wenn sie das nicht so konkret ausdrückt. „Es ist an ihm allein zu sagen, ob er die Ablehnung im Volk gegen ihn übergehen will“, sagte sie bei einem Fernsehauftritt mit einem süffisanten Lächeln.