„Wir kommen wieder“, rufen die sogenannten Teshreenis am Wochenende in Bagdad, als sie am Sonntagabend den Tahrir-Platz verlassen. Teshreen heißt auf Arabisch Oktober, und Tausende wollen an die Massendemonstrationen erinnern, die vor drei Jahren im ganzen Land begannen und Oktoberrevolution genannt wurden. Nicht nur im Iran gehen derzeit viele Menschen auf die Straße, auch im Irak bricht sich die Wut der Bevölkerung erneut Bahn. „Wir wollen Sicherheit, Jobs und unsere Bürgerrechte“, haben sie auf große Poster geschrieben. Fahnen mit diesem Slogan tragen immer auch Fotos von denen, die 2019 und 2020 bei den Protesten ums Leben kamen. Offizielle Zahlen sprechen von 600, die Teshreenis sprechen von weit über tausend. Der Aufmarsch jetzt in Bagdad soll nur der Auftakt zu weiteren Protesten sein, die sich in diesem Monat ausweiten würden. So viel stünde fest, sagt Alaa, der 32-jährige Bagdader, der schon vor drei Jahren dabei war.
In der Zwischenzeit wechselte die Regierung, ein neues Wahlgesetz wurde verabschiedet und Neuwahlen abgehalten. Die ersten Forderungen der Protestbewegung erfüllten sich. Die Teshreenis zogen sich zurück, tauchten unter, verließen das Land oder wurden getötet. Zu viele seien bei den Protesten ums Leben gekommen, sagt Alaa. Er selbst wurde gekidnappt und erpresst. „Sie taten alles, um unsere Revolution zu ersticken, uns zum Schweigen zu bringen.“ Es sollte keine Veränderung des politischen Systems geben, wie es die Demonstranten gefordert haben, ein Umbau der Machtverhältnisse, für Mehrheiten, die durch Wahlen zustande kommen und nicht durch Proporz und Klientelpolitik.
Die Wahlergebnisse letzten Oktober deuteten in diese Richtung. Sieger wurde der schiitische Kleriker Moktada al-Sadr, der sich die Slogans der Oktoberrevolution zunutze gemacht hatte. Auch einige Teshreenis erhielten Direktmandate für die Volksvertretung. Doch es reichte nicht. Eine Koalition musste gefunden werden. „Und dann ging der Ärger los“, kommentiert Alaa das Hickhack der letzten Monate. „Ein Jahr lang drehen die sich nun schon im Kreis und nichts passiert.“
Steine fliegen, Gummigeschosse, Tränengas breitet sich über dem Tahrir-Platz aus. Eine Mörsergranate explodiert auf der anderen Seite des Tigris, wo sich die Regierungsgebäude befinden und das Parlament, auf das so viele Demonstranten sauer sind. Denn die einzige Lösung, die aus der Sackgasse führen könnte, wäre die Auflösung der „unfähigen“ Volksvertretung – so der Vorwurf der Demonstranten – und erneute Wahlen. Doch das Parlament will sich nicht auflösen. Der Streit unter den Abgeordneten nimmt kein Ende. Aus Frust darüber hat sich Wahlsieger al-Sadr zurückgezogen, seine Parlamentarier abberufen. Zurück blieben diejenigen, die keine Reformen wollen und für ein „Weiter so“ plädieren. „Jetzt wird die Straße sprechen“, rief Sadr seinen Gegnern beim Rückzug noch zu. Und so ist es gekommen.
„Wir wollen den Sturz des Regimes“, schreien einige Frauen kurz vor Anbruch der Dämmerung, so wie sie es vor zwei Jahren schon gerufen haben. Und zwei Jahre nach Unterbrechung der Proteste geht es jetzt weiter: in Basra, Diwanija, Nasserija, Babylon, überall gibt es Demonstrationen. „Wir gehen nicht, solange bis alle unsere Forderungen erfüllt sind, wir wollen eine Zukunft!“
Am Rande der Proteste am Tahrir-Platz steht eine kleine, schlanke, ganz in Schwarz gehüllte Frau mit leeren Augen. „Meine Tochter ist hier vor zwei Jahren getötet worden“, sagt sie mit leiser Stimme. Sie sei Medizinstudentin gewesen und habe die Verletzten versorgt. Ein Gummigeschoss hätte sie an der Schläfe getroffen. „Sie war sofort tot.“ Nun ist die Mutter hier, um ihrer Tochter nahe zu sein. Das bitterste für sie ist, dass niemand für die getöteten Teshreenis zur Rechenschaft gezogen wurde, die „Killer“ ungestraft blieben. Dieses Mal gab es am Tahrir keine Toten, 86 Menschen wurden zumeist nur leicht verletzt.