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Irak Das Machtkarussell wird sich weiterdrehen

Neun Monate nach der Parlamentswahl steht der Irak vor einer gefährlichen Eskalation. Demonstranten wollen eine Regierungsbildung verhindern. Alles deutet auf eine weitere Wahl hin, meint Birgit Svensson.
31.07.2022, 17:46 Uhr
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Das Machtkarussell wird sich weiterdrehen
Von Birgit Svensson

Zurück blieben Säcke voller Müll. So sehen die Demonstranten, die am Mittwochabend das Parlament in Bagdad stürmten, die Abgeordneten ihres Landes. Die Demonstranten liefen über die Tische der Parlamentarier, schwenkten irakische Fahnen und sangen die Nationalhymne. Als ihr Anführer, der Schiitenprediger Muqtada al-Sadr, sie aufrief, das Gebäude zu verlassen, folgten sie gehorsam. Am Sonnabend kehrten sie in das Gebäude zurück und kündigten an, vorerst bleiben zu wollen.

Seit den vorgezogenen Neuwahlen im Oktober vergangenen Jahres soll im Irak eine neue Regierung gebildet werden. Streit und Uneinigkeit zwischen den Abgeordneten hatten dies verhindert. Der Zorn der Iraker darüber hat sich nun Bahn gebrochen. Seit Jahresbeginn scheiterten die Volksvertreter drei Mal an der Wahl eines neuen Staatsoberhauptes. Das Präsidentenamt im Irak, das für vier Jahren vergeben wird, ist weitgehend repräsentativ. Solange es jedoch keinen neuen Präsidenten gibt, kann auch keine neue Regierung gebildet werden. Das schreibt die Verfassung vor.

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Bei vielen der Protestteilnehmer handelte es sich um Anhänger des einflussreichen Schiitenführers Muqtada al-Sadr, der die Wahlen im Oktober zwar gewann, aber keine Mehrheit im Parlament zustande brachte. Sadr will mit den von der US-amerikanischen Besatzung eingeführten Regeln einer Machtaufteilung nach Proporz zwischen Ethnie und Religion brechen und die Macht gemäß Stimmabgabe verhandeln. Nicht Kurden, Sunniten oder Schiiten sollen die Regierungsposten erhalten, sondern diejenigen, die die meisten Stimmen bekommen haben.

Dagegen regt sich unbändiger Widerstand. Viele befürchten, vom Kuchen nichts mehr abzubekommen. Nicht nur das: Gegen Sadrs Linie steht vor allem der Iran, dessen Einfluss im Irak zwar schrumpft, der aber immer noch ein gewichtiges Wort mitzureden hat. Teheran will, dass seine Günstlinge an der Macht bleiben. Aus Protest verließen die Abgeordneten des Sadr-Blocks im Juni das Parlament. Jetzt kehren ihre Anhänger als „Stimmen von der Straße“ zurück.

Schon einmal, im April 2016, wurde das Parlament in Bagdad gestürmt. Auch damals waren es vorwiegend Anhänger von Muqtada al-Sadr. Allerdings mussten sie damals höhere Hürden überwinden. Das Regierungsviertel war mit einer Betonmauer umgeben. Schwer bewachte Kontrollpunkte machten es nahezu unmöglich, sie zu überwinden.

Heute sind alle Barrikaden abgebaut, die Checkpoints aufgelöst. Nur noch einzelne Gebäude, wie auch das Parlament, werden geschützt. Die Erstürmung vor sechs Jahren gilt daher als der Auftakt für anhaltende Proteste, die bis 2020 andauerten und den Tahrir-Platz in Bagdad zum Symbol der Bewegung machten. Die Demonstrationen waren so massiv, dass die Regierung aufgab und Neuwahlen anordnete, die im Oktober 2021 stattfanden und zur jetzigen Krise führten.

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Die pro-iranischen Kräfte im Parlament haben Ex-Minister Schia al-Sudani als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten im Parlament vorgeschlagen. Sudani ist 52 Jahre alt, er war Mitglied der unter Saddam verbotenen und verfolgten Dawa-Partei. Sein Vater und fünf weitere Familienmitglieder wurden von den Schergen des ehemaligen Diktators ermordet. Er selbst beteiligte sich an dem Aufstand der Schiiten gegen den Machthaber in Bagdad nach dem Kuwait-Krieg 1991.

Als Minister für Menschenrechte im Kabinett Malikis von 2010 bis 2014 legte er in einem Gespräch seine Position dar: Er betrachte die Todesstrafe als ein Menschenrecht für die Opfer der Diktatur, sagte er. Die schiitischen Märtyrer müssten Gerechtigkeit erfahren.

­Sudani hat nie einen Hehl aus seiner religiös geprägten Gesinnung gemacht. Er ist ein Hardliner mit Vergangenheit, der von den vielen jungen Mitgliedern der Protestbewegung zur alten Garde gezählt wird: sektiererisch und vor allem korrupt. Plakate zeigen ihn und seinen ehemaligen Chef, Premierminister Nuri al-Maliki, mit einem roten durchgestrichenen Kreuz. Eine eindeutige Botschaft. Das Machtkarussell wird sich weiterdrehen und eine weitere Wahl notwendig werden.

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