Schusswechsel im Zentrum Bagdads, Raketeneinschläge in der eigentlich hoch gesicherten Grünen Zone der irakischen Hauptstadt, mehr als 20 Tote und Hunderte Verletzte: Die Bilder aus dem Irak wecken Erinnerungen an die dunkelsten Zeiten des Landes. Iraks Elite hat das Land in eine Sackgasse manövriert. Die Eskalation in dieser Woche zeigt, dass die Lage jederzeit außer Kontrolle geraten kann. Immerhin hat der schiitische Geistliche Muktada al-Sadr, der im Zentrum des Konflikts steht, zunächst die Notbremse gezogen. Er befahl seinen Anhängern, ihren wochenlangen Protest vor dem Parlament zu beenden.
Nach tagelangen Spannungen zwischen verfeindeten schiitischen Kräften hatte sich die Lage zugespitzt. Anhänger von Al-Sadr stürmten das Regierungsviertel, überwanden die Mauern des Präsidentenpalastes und besetzten den Amtssitz des Premierministers. Sicherheitskräfte schritten ein, schossen scharf, töteten mindestens 20 Demonstranten. Bis zu 200 sollen verletzt worden sein. Dass die Auseinandersetzung um die Regierungsbildung blutige Auswirkungen haben wird, war befürchtet worden. Hoffnungen, dass dies vermieden werden kann, haben sich zerschlagen.
Dem vorausgegangen war die Ankündigung Al-Sadrs, sich gänzlich aus der Politik zurückzuziehen, alle mit seinem Namen und seiner Familie verbundenen Institutionen zu schließen. Kurze Zeit später wurde das Regierungsviertel gestürmt, von Menschen, deren Hoffnungsträger er seit den Parlamentswahlen im Oktober 2021 geworden ist. „Das ist keine Sadristen-Bewegung“, war von einigen Protestierenden zu hören, „sondern die Fortsetzung der Revolution des Volkes“.
Und tatsächlich hat das, was gerade in Bagdad geschieht, mit den Massenprotesten rund um den Tahrir-Platz vor drei Jahren zu tun, als Tausende in Bagdad, Millionen im ganzen Land gegen die herrschenden Politiker auf die Straße gingen und einen Regimewechsel forderten. Muktada al-Sadr, Populist der ersten Stunde, setzte sich an die Spitze der Bewegung und machte sich deren Forderungen zu eigen: „Irak den Irakern, ausländische Mächte raus, Schluss mit dem von den amerikanischen Besatzern eingeführten Proporz bei der Aufteilung der Macht, Bekämpfung der Korruption.“ Das Ergebnis der Wahlen im Oktober war entsprechend – Al-Sadr gewann, erhielt aber nicht die notwendige Mehrheit, um allein zu regieren. Damit begann das Dilemma.
Seitdem versuchte der 48-Jährige alles, um eine Koalition in seinem Sinne zu etablieren, vergebens. Die neu gewählten Parlamentarier haben bislang alles blockiert. Dabei sind es nicht nur die mit Al-Sadr verfeindeten schiitischen Parteien, die dem Iran gehorchen und dessen Einfluss im Irak schwinden sehen, wenn eine Regierung gemäß dem Wahlergebnis gebildet wird. Es sind auch die Kurden, die am bestehenden System festhalten.
Erbittertes Ringen
Nach zehn Monaten erbittertem Ringen hat Al-Sadr seinen Versuch aufgegeben, das politische System im Irak mithilfe des Parlaments zu verändern und forderte Neuwahlen. Doch die Abgeordneten denken nicht daran, einer Auflösung des Parlaments zuzustimmen. Am Dienstag sollte ein Gericht darüber entscheiden. Aus gut informierten Kreisen in Bagdad heißt es, dass Muktada al-Sadr auch hier eine Absage kassiert hätte. Sein politischer Rückzug ist daher als Konsequenz zu interpretieren.