In Brüssel herrschte gestern vor allem Tristesse und das lag ausnahmsweise nicht nur am gewohnt grau-nassen Kapuzenwetter, sondern an den Nachrichten aus Italien. Die drittgrößte Volkswirtschaft der EU könnte bald von einer rechten Allianz um die postfaschistische Partei Fratelli d'Italia regiert werden, angeführt von Giorgia Meloni.
Einer ihrer ersten Gratulanten hieß Viktor Orban – ausgerechnet. Zum Chef-Störenfried Europas pflegt die Italienerin ein besonders enges Verhältnis. „Bravo, Giorgia!“, schrieb der ungarische Ministerpräsident in den sozialen Medien. Während die europäischen Rechtspopulisten also jubelten, blickten Beamte und EU-Abgeordnete anderer Parteien mit Sorge auf die kommenden Monate.
Bringt Melonis Erfolg das Fundament der Gemeinschaft ins Wanken? Angesichts von Rechtsstaatlichkeitsproblemen und der von Russlands Krieg gegen die Ukraine angeheizten Inflation sowie explodierenden Energiepreisen steht die Union vor gewaltigen Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, braucht sie Italien als mächtige Stimme. Das südeuropäische Land gehört zum Kreis der Nettozahler. Aber in Brüssel befürchten viele, dass Meloni anstehende Entscheidungen künftig blockieren könnte, etwa an der Seite der polnischen Regierung die Kürzung der Mittel für Ungarn.
Die EU-Kommission wirft Budapest Verstöße gegen Rechtsstaats-Prinzipien und einen unzureichenden Kampf gegen Korruption vor und empfahl, dem Land die Zahlung von 7,5 Milliarden Euro zu streichen. Für einen Beschluss ist jedoch eine qualifizierte Mehrheit nötig, das heißt, mindestens 15 EU-Länder, die 65 Prozent der europäischen Bevölkerung vertreten, müssen zustimmen. Ohne Italien könnte sich das schwierig gestalten.
Zwar unterstützt Meloni die Sanktionen gegen Russland. Bei anderen Entscheidungen, die im Kreis der Mitgliedstaaten Einstimmigkeit erfordern, könnte ihr Widerstand jedoch zum Problem werden, etwa beim Thema Migration oder Rechte für Minderheiten. „Für Europa ist der Spaß vorbei“, drohte Meloni unter dem Applaus ihrer Anhänger erst kürzlich. Gleichwohl beschwichtigte die Italienerin, sie sei „keine Gefahr für die Demokratie“.
Würde sie gemeinsame europäische Vorhaben torpedieren, um nationale Interessen durchzusetzen? Oder handelte es sich bei ihren Warnungen vielmehr um reine Wahlkampfparolen? Die EU-Abgeordnete Alexandra Geese (Grüne) rechnet damit, dass sich Meloni auf europäischer Ebene „stark gemäßigt darstellen“ wird. Doch das ändere nichts an ihrer Haltung. „Extremismus ist ihr Erfolgsrezept“, so die Italien-Kennerin Geese. Das sei auch für Europa „extrem beunruhigend“.
Noch bezweifeln viele in Brüssel, dass die Römerin ihren Konfrontationskurs fortsetzen wird, sollte sie tatsächlich bald bei Gipfeln am Tisch der EU-Staats- und Regierungschefs sitzen. Denn es geht auch für sie um viel Geld. Der hochverschuldete Staat erwartet noch die sukzessive Auszahlung von 191,5 Milliarden Euro als Zuschüsse und Darlehen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU. Dafür hatte die Vorgängerregierung einen umfassenden Reformplan präsentiert, auf deren Umsetzung die Brüsseler Behörde bestehen dürfte.
Die Rechtskoalition forderte dagegen schon vor der Wahl eine Nachverhandlung. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte vergangene Woche gesagt, ihre Behörde habe „Werkzeuge“, falls die Dinge in eine „schwierige Richtung“ gingen und EU-Richtlinien verletzt würden. Ohne Italien namentlich zu erwähnen, wurden ihre Worte als Warnung in Richtung Rom verstanden. Dementsprechend groß war der Aufschrei im Kreis der Rechtspopulisten. Der französische Europaabgeordnete Jordan Bardella von Marine Le Pens Rassemblement National (RN) befand nach der Wahl, dass die Italiener der Deutschen „eine Lektion in Demut“ erteilt hätten.
„Schwere Zeiten für Europa“, prognostizierte die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD). Sie kritisierte die „Schützenhilfe der Konservativen“. Der CSU-Politiker Manfred Weber, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament wie auch deren Präsident, leistete in den vergangenen Wochen Wahlkampfhilfe für Silvio Berlusconi – und erntete harsche Kritik. Berlusconis Forza Italia gehört zur Parteienfamilie der EVP. Einerseits. Andererseits will der Italiener in einem Bündnis mit den zwei Rechtsaußenparteien regieren. „Werden Christdemokraten die Partner von Postfaschisten?“, fragte der Chef der SPD-Europaabgeordneten im EU-Parlament, Jens Geier, und monierte, dass Weber „für den sexistischen Medienmogul und mehrfach verurteilten Steuerbetrüger getrommelt“ habe. Weber selbst wollte sich gestern zunächst nicht äußern.