Wenn die Ukraine fällt, könnten sie die Nächsten sein - das befürchten viele Litauer. „Die Angst vor einem möglichen russischen Angriff spürt man hier deutlich, seit Beginn des Kriegs im Februar“, sagt Frederik Stierwaldt. Der gebürtige Bremer, aufgewachsen in Syke, lebt seit gut zehn Monaten in der litauischen Hauptstadt Vilnius, arbeitet und studiert hier in der Logistikbranche. Am Dienstag besucht Bundeskanzler Olaf Scholz das Land, spricht mit Staatspräsident Gitanas Naudeda, mit Ministerpräsidentin Ingrida Šimonyt? und ihren Kolleginnen und Kollegen aus den baltischen Staaten. Dabei wird es unter anderem um den russischen Angriffskrieg und die Absicherung der NATO-Ostflanke sein.
Bei einem Spaziergang im Regen durch die Altstadt zeigt der 27-Jährige auf die vielen blau-gelb ukrainischen Flaggen, die an fast jedem Haus zu sehen sind: in den Fenstern, an Balkonen. Sie kleben als Sticker an Regenrinnen und an Laternenpfählen. Und dann gibt es da noch die vielen ukrainischen Autofahnen und die Aufnäher, die die Litauer an ihren Rucksäcken, Taschen, Mänteln tragen, daneben oft die litauische Flagge: in Gelb, Grün, Rot.
Die Solidarität mit der Ukraine, das spürt man überall in Vilnius, ist extrem groß. Fast täglich gibt es Demos, Podiumsdiskussionen, Sammelaktionen. Viele Litauer haben ihre Wohnungen ukrainischen Geflüchteten überlassen. Und erst vor gut einer Woche sind die Litauer mit einer außergewöhnlichen Spendenaktion international aufgefallen. Dreieinhalb Tage lang sammelte der litauische Sender Laisves TV Geld von den Bürgern, um damit eine Bayraktar-Kampfdrohne zu kaufen und diese schnellstmöglich an die ukrainische Armee zu übergeben. Mehr als fünf Millionen Euro sind zusammengekommen. Dabei hat Litauen nur 2,8 Millionen Einwohner, weniger als Berlin. „Das wurde hier groß gefeiert. Ich weiß nicht, ob solch eine Aktion für den Kauf von Waffen in Deutschland möglich wäre und so gefeiert werden würde“, sagt Stierwaldt.
Doch für die Litauer scheint es selbstverständlich zu sein, alles erdenklich Mögliche zu unternehmen, die Ukrainer zu unterstützen. „Sie kämpfen für uns. Sie sind unsere Brüder und Schwestern“ – ein Satz, den man hier oft im Gespräch mit Litauern hört. Vor allem mit einer politischen Entscheidung hat Litauen ein deutliches Zeichen gesetzt: Anfang April hat es als erstes EU-Mitglied das Ende russischer Gaslieferungen verkündet. Inzwischen hat es alle Energieimporte aus Russland eingestellt.
Russland führt den Krieg unermüdlich fort, hat schon ein Fünftel der Ukraine eingenommen. Die Litauer betrachten das mit großer Sorge. Ihr Land wurde 45 Jahre lang, wie auch die Ukraine, vom Sowjet-Regime besetzt. 1990 rief Litauen die Unabhängigkeit aus, 2002 trat das Land der Nato bei. Die jahrelange Besatzung des Sowjetregimes hat tiefe Wunden in der Bevölkerung hinterlassen, die mit Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder aufgerissen sind. Viele Litauer befürchten, dass sie nun erneut ihre Freiheit, ihre Identität, ihre Unabhängigkeit verlieren könnten. Die Politik, die Bevölkerung ist seit Februar in Alarmbereitschaft.
Litauen ist ein kleines Land. Die Grenze zu Belarus ist nur 30 Kilometer von Vilnius entfernt. „Die Ukraine hat 45 Millionen Einwohner, Litauen nicht mal drei Millionen. Allein Vilnius könnte innerhalb kürzester Zeit eingenommen werden“, erklärt Ruslanas Irzikevicius, Chefredakteur des Online-Nachrichtenportals Lithuania Tribune. „Wir kennen Russland, wir haben bereits vor Jahren davor gewarnt, dass Russland die Ukraine angreifen wird. Niemand hat es geglaubt, keiner hat auf uns gehört“, sagt Irzikevicius. Und jetzt würden die baltischen Länder wieder warnen. „Nach der Ukraine wird Wladimir Putin nicht aufhören. Das zu glauben, ist naiv“, sagt der Journalist.
Denn Putin hasse nicht nur die Ukraine. Er hasse das Baltikum, die freie westliche Welt, die demokratischen Werte. „Wir müssen die Ukraine jetzt unterstützen, mit allem, was geht, damit es eben nicht so weit kommt.“ Gerade Deutschland habe die Gefahr, die von Russland ausgehe, zu lange unterschätzt. Der deutsche Ansatz „Wandel durch Handel“, sei gescheitert, sagt Irzikevicius. „Russland wird sich nicht wandeln, nicht mit dieser Regierung.“
Und nicht nur die belarussische Grenze ist gefährlich nah an Litauen. Es gibt da noch eine weitere Gefahr: die Suwalki-Lücke – ein Landstrich zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad, der Litauen mit Polen verbindet. Die gut hundert Kilometer lange Grenze ist die einzige Landbrücke, die das Baltikum mit den anderen Nato-Staaten verbindet. In einem Verteidigungsfall müsste die Nato über diese Grenze Truppen und Panzer ins Baltikum bringen. Seit Jahren warnen Militärexperten davor, dass Russland und Belarus die Landverbindung besetzen könnten. Dann wäre das Baltikum isoliert.
„Die Bedrohung ist präsent. Meine litauischen Freunde haben mich gleich zu Beginn des Kriegs gefragt, ob ich sie in Deutschland aufnehmen würde, wenn Russland angreifen sollte“, erzählt Stierwaldt. „Ich kann bei einem Angriff immer nach Hause, nach Bremen zurückkehren. Für die Menschen hier ist das nicht möglich. Das ist ihre Heimat.“
Anfangs hätte bei seinen litauischen Freunden vor allem die Angst überwogen. Doch das hat sich im Laufe der vergangenen Monate wie bei so vielen Litauern geändert. Als immer mehr von den russischen Gräueltaten Russlands berichtet wurde, sei die Wut aufgekommen, die Motivation, zu kämpfen. Mittlerweile dominiere bei vielen Litauern vor allem der Wille, das Land zu verteidigen, für die Freiheit, die Demokratie, erzählt der Bremer.
Das gilt auch für Irzikevicius. Im März ist er daher auch der litauischen Schützenunion beigetreten, einer paramilitärischen Organisation. Seitdem verbringt er die Wochenenden damit, sich mit anderen Freiwilligen militärisch ausbilden zu lassen. Er lernt zu kämpfen, sich im Wald zu orientieren, zu schießen. „Ich will das nicht, aber ich muss es tun. Wir müssen uns als Litauer vorbereiten“, sagt er. Lehrer, Ingenieure, Studenten, Journalisten und selbst Politiker würden in die paramilitärische Organisation eintreten.
Seit Kriegsbeginn ist die Mitgliederzahl um 40 Prozent angeschrieben, heißt es nach Informationen der Schützenunion. „Ich würde sagen, dass die Litauer an die Nato glauben. Aber sie wissen, dass sie zuerst kämpfen müssen, unter anderem zusammen mit Nato-Kräften“, sagt Irzikevicius. Die Nato habe eben noch nicht genug Truppen in den baltischen Staaten. Und ohne genügend Verstärkung wäre es für die Russen sehr viel einfacher gegen die Litauer kämpfen.
„Wir müssen die Ukraine dringend stärken. Das Land braucht schwere Waffen, schnellere Lieferungen. Und gerade Deutschland und Frankreich sollten endlich mehr unternehmen, mit Russland wirtschaftliche Verbindungen abbrechen“, sagt Irzikevicius. Die Kritik gegenüber Deutschland ist in den baltischen Ländern extrem groß. Das weiß auch Stierwaldt. Doch er sei da rationaler und würde weniger emotional auf die Sache blicken. „Ich kann die Litauer verstehen. Aber die Politik ist eben nicht schwarz und weiß. Ich vertraue darauf, dass die deutsche Regierung weiß, was sie tut“, sagt der Bremer. Er will noch weiter in Litauen bleiben. Wie lange, das weiß er nicht. Sollte Russland tatsächlich angreifen, würde er wahrscheinlich zurück nach Bremen ziehen. Aber vielleicht würde er sogar in Litauen bleiben, Seite an Seite mit seinen litauischen Freunden kämpfen.