Es gibt sie noch, die Momente der Sorglosigkeit in dunkelsten Zeiten. Als Wolodymyr Selenskyj am Donnerstagmorgen am roten Teppich des Brüsseler Ratsgebäudes eintraf, wurde er herzlich begrüßt von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Antonio Costa. Küsschen links, Küsschen rechts, ein Empfang unter Freunden. Und der Ukrainer versuchte sich abseits des Scheinwerferlichts in Smalltalk. „Wie läuft‘s?“, fragte er und lächelte fast schelmisch. „Gut, gut“, sagten von der Leyen und Costa und nickten eifrig.
Die beiden europäischen Spitzenpolitiker mussten bei ihren Antworten selbst auflachen. Denn die Lage könnte für die Gemeinschaft seit dem 28. Februar 2025, dem Tag des beispiellosen Eklats im Weißen Haus, ernster kaum sein. Unter Führung von Donald Trump haben die USA die Weltordnung aufgekündigt, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dem alten Kontinent Sicherheit und Wohlstand garantierte. In der neuen Wirklichkeit sind die Europäer existenziell bedroht. Am Donnerstag suchten die 27 EU-Staats- und Regierungschefs bei einem Sondertreffen – manche schrieben überspitzt gar von einem „Kriegsgipfel“ – deshalb nach Wegen, wie sie ein starkes, abwehrbereites Europa formen könnten.
Sie müssen das scheinbar Unmögliche schaffen: gleichzeitig die von Russland angegriffene Ukraine retten und ihre eigene Sicherheitsarchitektur aufbauen. Die Lage sei brandgefährlich, sagte von der Leyen. Man stehe an einem „Wendepunkt“, nachdem Washington die US-Militärhilfen für das kriegsgebeutelte Land vorläufig gestoppt und die Union auf dieser Seite des Atlantiks neuerdings als Feind auserkoren hat. Während die einen vom Beginn eines „neuen Kapitels“ in der Geschichte Europas sprachen – man befindet sich nun in der „Ära der Aufrüstung“ –, bezeichnete Polens Premier Donald Tusk diesen Donnerstag als „Tag, an dem sich alles ändern kann und wahrscheinlich auch ändern wird, was Europas Entschlossenheit angeht, wieder aufzurüsten und die Rüstungsindustrie zu stärken“. Er verglich die Situation mit dem Kalten Krieg und zeigte sich überzeugt, dass „Russland dieses Wettrüsten verlieren wird – genau wie die Sowjetunion vor 40 Jahren“.
Die EU will Stärke und Selbstbewusstsein demonstrieren. Reicht das? Von Diplomaten war zu vernehmen, dass der Schock über den Kurswechsel der Amerikaner in den vergangenen Wochen die Wahrnehmung in den Hauptstädten fundamental verändert habe. „Jetzt gebe es die Chance, all die Dinge zu tun, die man schon vor langer Zeit hätte tun müssen“, sagt ein hochrangiger EU-Diplomat. Doch den Europäern läuft die Zeit davon. Wie sollen sie sich in kürzester Zeit militärisch ertüchtigen? Die Staatenlenker einigten sich am Abend in der gemeinsamen Gipfelerklärung darauf, „die Verteidigungsausgaben erheblich zu erhöhen“. Sie begrüßten den Vorschlag der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten Darlehen in Höhe von bis zu 150 Milliarden Euro zu gewähren, damit sie ihre nationalen Verteidigungsausgaben steigern können und das Geld in Luft- und Raketenabwehr, in Artilleriesysteme, Munition, kritische Infrastruktur und Drohnen investieren. Von der Leyen wurde beauftragt, „zusätzliche Finanzierungsquellen für die Verteidigung auf EU-Ebene“ zu präsentieren. Insgesamt will die Behörde mit ihrem Plan bis zu 800 Milliarden Euro mobilisieren. Dafür hatte die Behörde zudem empfohlen, die strikten EU-Haushaltsregeln mittels einer Ausnahmeklausel zu lockern, sodass Verteidigungsausgaben vorübergehend nicht mehr angerechnet werden.
In einer Kehrtwende – und zur Freude der meisten Partner – zeigte sich sogar das traditionell sparsame Deutschland offen für den Schritt. Man müsse „auch langfristig zur Veränderung des Regelwerks in Europa kommen, ganz entlang dessen, was wir in Deutschland gegenwärtig auch diskutieren“, sagte Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz. Zudem forderte der SPD-Mann sicherzustellen, „dass die Ukraine nicht einen Diktatfrieden akzeptieren muss“. Seine Worte sollen größtenteils abgestimmt gewesen sein mit seinem wahrscheinlichen Nachfolger Friedrich Merz (CDU), der ebenfalls am Mittwochabend und Donnerstag in Brüssel weilte.
Obwohl der Christdemokrat nicht am Gipfel teilnahm, stand er hinter den Kulissen im Zentrum der Diskussionen. Die Einigung in Berlin auf ein milliardenschweres Sondervermögen und eine Reform der Schuldenbremse sorgte in Brüssel für Erleichterung. Plötzlich übernimmt die Bundesrepublik wieder Führung auf EU-Ebene, so die Lesart – nicht mit jenem diplomatischen Feingefühl, für das Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer zuletzt gepriesen wurden, sondern „typisch deutsch“, wie es ein EU-Beamter nannte: mit der „Geld-Bazooka“.
Bei dem Treffen stand über allem die Frage, ob der isolationistische, antieuropäische Kurs von Trump auch die EU spalten würde: Gelingt es dem Staatenverbund, dem US-Präsidenten vereint und wirkungsvoll etwas entgegenzusetzen? Tatsächlich offenbart die massive Sicherheitskrise, die Trump heraufbeschworen hat, die tiefen Risse in der Union. Schlussendlich betonten die Staatenlenker zwar in der Schlusserklärung die Unterstützung der Ukraine – allerdings ohne Ungarn. Dauerstörenfried Viktor Orbán hatte erneut quergeschossen. Der ungarische Ministerpräsident lehnt weitere Hilfen für Kiew ab.