Eng verbunden und doch getrennt – kaum ein Ort symbolisiert die aktuelle Situation in der Ukraine so deutlich wie der Grenzort Milowe. Über Jahrzehnte bildete er eine Einheit mit dem russischen Tschertkowo. Gemeinsamer Bahnhof, gemeinsame Hauptstraße, gemeinsame Paraden zeugten von einem guten Zusammenleben. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die gemeinsame Hauptstraße, die „Straße der Freundschaft zwischen den Völkern“, lässt sich seit 2018 nur noch als Einbahnstraße befahren. Russland hat hier einen Maschendrahtzaun errichten lassen – mittig auf der Fahrbahn.
Bogdan Korschun betreibt ein Café an einer Kreuzung zu dieser Straße. Vom Gebäudeeingang blickt er direkt auf den inzwischen stillgelegten Bahnhof und dessen Fußgängerbrücke. Die ist immer noch gut zu erkennen, doch die Treppe blockieren hier statt eines Maschendrahtzauns hohe Sichtschutzzäune. Aus einem Nebenraum des Cafés schaut er direkt hinüber nach Russland und auf den trennenden Zaun.
Früher sei er regelmäßig nach Tschertkowo gegangen, erzählt der 35-Jährige: „Mein Bruder lebt auf der anderen Straßenseite. Wir haben uns seit sieben Jahren nicht mehr gesehen.“ Von der Kriegsfront im Donbass liegt Milowe zwar noch rund 120 Kilometer entfernt. „Aber 2014 hat alles verändert“, sagt Korschun mit Blick auf den Beginn der Kämpfe um die Separatistengebiete in Lugansk und Donezk. Damit habe die Teilung Milowes und Tschwertkowos begonnen. Laut Medienberichten war es auch hier zu Kampfhandlungen gekommen, worauf die eigentlich unsichtbare Grenze erstmals geschlossen wurde. Zunächst folgten Hinweisschilder, der Übertritt sei strafbar. 2018 zementierte der Zaun die Teilung endgültig – ohne jede Ankündigung.
Stundenlange Wartezeiten an der ukrainisch-russischen Grenze
Nun sei der Grenzübertritt mit stundenlangen Wartezeiten und bürokratischen Hürden verbunden, sagt Korschun. Unter anderem benötige es einen internationalen Reisepass, unterschiedliche Corona-Regeln beider Länder erschwerten das Pendeln zusätzlich. „Dafür fehlt mir die Zeit“, sagt Korschun. Hinzu kommt, dass dieser Zustand für viele Bewohner gänzlich neu ist. Zu Sowjetzeiten gehörten beide Orte ohnehin zusammen, auch nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 pflegten sie eine enge Verbindung. „Kinder aus Tschertkowo sind hier zur Schule gegangen und umgekehrt“, schildert Korschun. Der Handel habe floriert, Russen hätten in Milowe Früchte eingekauft, Ukrainer ihre Kleidung in Tschertkowo.
Sorgen angesichts des militärischen Aufmarschs mit mehr als 100.000 russischen Soldaten rund um die ukrainische Grenze mache er sich nicht. „Hier ist kein Militär, und wir beachten das nicht“, sagt Korschun. Die Nachrichten verfolge er kaum. Täglich fahre er am Grenzzaun entlang, blicke auf die russische Seite – da habe sich nichts verändert.

Milowe in der Ukraine und das benachbarte Tscherkowo in Russland trennt ein Grenzzaun.
Kriegssorgen in der Ukraine werden heruntergespielt
Ob auf der Straße oder in Cafés: Immer wieder werden die Kriegssorgen in der Ukraine heruntergespielt oder relativiert. Differenzierter bewertet Leonid Maslow die Lage. Der Veteran und Anwalt lebt in Charkiw, mit mehr als anderthalb Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine, rund 40 Kilometer südlich der russischen Grenze. Er begrüßt seine Gäste nach einer Sicherheitskontrolle an der Rezeption und hinter einer doppelt verriegelbaren Stahltür in seinem Büro. Maslow nimmt auf einem Ledersessel Platz und deutet an die Decke: „Das ist die Drohne, mit der ich 2014 russische Angreifer entdeckt habe.“ Mehrfach habe er im Donbass gekämpft, zunächst freiwillig, später als Teil der Armee. Der Anwalt zeigt sich fest entschlossen, wieder zu kämpfen, sollte es „erneut“ zu einem Angriffskrieg durch Russland kommen.
Angst vor einem Krieg habe er keine, beteuert Maslow mehrfach. Angst, das sei auch eine Entscheidung, den Krieg den eigenen Alltag bestimmen zu lassen. „Ich habe einen Plan für meine Familie gemacht, was sie alles packen soll im Kriegsfall, uns fehlen nur noch ein paar Lebensmittel für den Vorrat“, schildert er und verrät: „Ich war seit 2014 nie nicht angespannt. Jeden Morgen schaue ich zuerst aufs Handy, was die russischen Truppen gerade machen.“

Anwalt und Veteran Leonid Maslow in seinem Büro im "Kapitalist"-Gebäude
In den vergangenen Jahren hätten die Ukrainer die Bedrohung durch Russland weitgehend ignoriert. Erst mit dem Truppenaufmarsch an der Grenze ändere sich das. Bei ihm selbst komme mehr zusammen als der häufig thematisierte Notfallrucksack: „Ich habe auch noch meine Waffen, die ich mitnehmen würde.“ Mit den Plänen für eine mögliche Flucht sei für ihn das Thema im Alltag abgeschlossen und er könne seine Aufmerksamkeit dem Leben an sich widmen. Auch der Tod mache ihm keine Angst: „Es bereitet mir eher Sorgen, was dann mit meinem Eigentum passiert.“
Mehrheit der Menschen in Charkiw wünscht sich Sowjetunion zurück
Mit seiner Einstellung zähle er zu einer Minderheit im mehrheitlich russischsprachigen Charkiw, räumt er ein: „Mein Umfeld und ich machen vielleicht zehn Prozent aus. Die Mehrheit hier sehnt sich die Sowjetunion zurück. So wird sich Charkiw bei einem russischen Einmarsch auch ergeben.“ Viele Menschen, die früher in den Fabriken gearbeitet hätten, seien heute arbeitslos und warteten darauf, dass ihnen jemand wieder Arbeit gebe – ohne, dass sie sich darum selbst bemühen müssten. Typisch sowjetisch, nennt der Anwalt das. Sich selbst bezeichnet er dagegen als antisowjetisch und antisozialistisch. Dabei seien seine Eltern beide ranghohe Beamte in der Sowjetunion gewesen – jedoch der Regierung gegenüber immer kritisch geblieben.

Im mehrheitlich russischsprachigen Charkiw wünschen sich viele Menschen die Sowjetunion zurück.
Auch die ukrainische Regierung bekommt bei Maslow keine guten Noten. Aus eigener Erfahrung: Als er als Experte an der Justizreform mitgewirkt hatte, habe der damalige Präsident Petro Poroschenko eine Aussage von ihm strategisch und manipulativ genutzt und die Arbeit des Gremiums behindert. Trotzdem wünscht sich Maslow, dass die ukrainische Kultur mehr gelebt werde, die ukrainische Sprache mehr gesprochen. Bei ihm zu Hause und im Büro verbiete er deshalb die russische Sprache. Er selbst sei eher westlich und europäisch orientiert, an demokratischen Werten. Wie eng allerdings die Verbindung zwischen Ukrainern und Russen ist, wird Maslow mit Blick auf seine eigene Biografie klar: „Ich bin übrigens großteils Russe, also genetisch und ethnisch betrachtet.“ Von der gemeinsamen Geschichte der beiden Völker hat er sich trotzdem distanziert. Ebenso, wie sich die beiden benachbarten Orte Milowe und Tschertkowo, getrennt durch einen Zaun, in verschiedene Richtungen entwickelt haben.