Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Innenstädte Wie Utrecht aus seiner City ein Zuhause macht

Es gilt als eines der größten Bauprojekte in den Niederlanden: Die Stadt Utrecht plant einen neuen Stadtteil für 12.000 Einwohner. Das wird von vielen bewundert, es gibt aber auch Kritik. Ein Besuch vor Ort.
13.04.2022, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Wie Utrecht aus seiner City ein Zuhause macht
Von Marc Hagedorn

Die vier jungen Männer legen sich mächtig in die Riemen. Rudertraining auf dem Merwedekanal in Utrecht. Der Trainer fährt am Ufer nebenher. Mit der einen Hand lenkt er sein Fahrrad, mit der anderen Hand hält er ein Megafon, in das er Anweisungen brüllt, den Blick starr aufs Wasser gerichtet.

Wenn der Trainer es sich erlauben würde, einmal zur anderen Seite zu schauen, könnte er eine Wüstenlandschaft sehen. 24 Hektar meist braune Erde, wie hingetupft ein paar verlassene Gebäude. Betonskelette, die aussehen, als seien sie früher einmal mehrstöckige Fabrikhallen oder Parkhäuser gewesen.

„Pas op! In/uitrit werkverkeer“ steht auf einem gelben Warnschild, „Aufgepasst! Ein- und Ausfahrt Werksverkehr“. Doch hier fahren schon seit Längerem keine Lkw und Transporter mehr. Aber das wird sich ändern. Auf der Fläche, die im Moment noch unbewohnt wie der Mond wirkt, nimmt in den nächsten Jahren ein Projekt Gestalt an, das später laut Utrechter Stadtverwaltung einer der „größten innerstädtischen Stadtteile der Niederlande“ sein wird.

„Utrecht ist äußerst populär und eine der am schnellsten wachsenden Städte in den Niederlanden“, sagt der zuständige Stadtrat Kees Diepeveen dem WESER-KURIER. Bis 2040 rechnet die 360.000 Einwohner zählende Stadt mit 100.000 Zuzügen. 60.000 Wohnungen sollen bis dahin neu entstehen.

Die ersten 10.000 davon werden südwestlich des Stadtzentrums gebaut. Merwedekanaalzone heißt das Vorhaben auf einem ehemaligen Industriegebiet. Keine zehn Minuten sind es mit dem Fahrrad vom Zentrum bis hierher. 12.000 Menschen sollen hier in wenigen Jahren in einem komplett neuen Stadtteil zu Hause sein. "Grün, autofrei und nachhaltig", wie Diepeveen sagt, entwickelt von der Stadtverwaltung und zehn privatwirtschaftlichen Unternehmen, denen die Grundstücke in Merwede gehören.

„Merwede wird eine einzigartige Nachbarschaft mit einer eigenen Identität sein, mit unterschiedlichen Gebäudehöhen, zeitgenössischer Architektur und grünen Dächern“, sagt Elies Koot, eine der Projektentwicklerinnen.

Lesen Sie auch

Sandi und Bas gehen am Kanal spazieren. Das Paar, beide Mitte 30, kommt aus dem Umland. Die zwei haben den sonnigen Spätnachmittag nach Feierabend für einen Abstecher nach Utrecht genutzt. „Wir schauen für Freunde aus Amsterdam, was hier entstehen soll“, sagt sie. Dafür umrunden die beiden das mittlere der insgesamt drei Areale einmal auf einem 2,6 Kilometer langen Fußweg mit elf Stationen, an denen sich Interessierte über die Pläne für Merwede informieren können. Es genügt, die QR-Codes auf den gelben Hinweistafeln am Wegesrand zu scannen.

Sandi und Bas erfahren auf diese Weise, dass in Merwede auf der Hälfte aller Gebäudedächer Solarkollektoren installiert werden, die andere Hälfte wird bepflanzt. 21.500 Fahrradstellplätze soll es geben, 250 Autos fürs Car-Sharing und zwei Logistikzentren für Paketdienste. Die vielen Grünflächen, Innenhöfe und alternativen Mobilitätskonzepte sollen dafür sorgen, dass Merwede nahezu energieneutral wird. Dazu trägt entscheidend der größte unterirdische Wärme- und Kältespeicher der Niederlanden bei, der mit dem Wasser aus dem Kanal gespeist wird.

Merwede versteht sich als Stadtteil der kurzen Wege, alles soll zu Fuß oder mit dem Rad bequem erreichbar sein. „Ein Quartier zum Wohnen, Arbeiten und Zusammenleben“, sagt Entwicklungsdirektor Bram Hagemeier. Deshalb gibt es dort auch zwei Grundschulen, eine weiterführende Schule, ein Gesundheits- und Seniorenzentrum sowie einen zentralen Kulturtreffpunkt. Und selbstverständlich Bars, Restaurants, Cafés. Eine kleine Stadt in der großen Stadt.

„Es wird ein Platz für Menschen aus allen Einkommensgruppen, aus allen Lebensabschnitten und mit ganz verschiedenen Hintergründen", sagt Stadtrat Diepeveen. 30 Prozent der Wohnungen sind als Sozialwohnungen geplant, deshalb ist das Merwede-Projekt vom Staat auch mit 21 Millionen Euro bezuschusst worden. 25 Prozent der Wohnungen zählen mit einem maximalen Mietpreis von 1000 Euro zum mittleren Segment. Die restlichen Wohnungen werden frei verkauft.

An manchen Stellen lässt sich schon erahnen, wie es später einmal in Merwede aussehen könnte. In Randbereichen stehen ein paar Bauten schon. Am Kanaalweg 30 etwa, dem Ausgangspunkt für den Informationsspaziergang: Hier haben sich rund um das Café Keet die Kreativen niedergelassen, Software-Entwickler, Webdesigner, eine Künstleragentur.

Am Café Keet hocken an diesem lauschigen Abend mehrere Mittzwanziger bei Tee und Bier zusammen auf Holzpaletten, die als Sitzmöbel dienen. Was sie vom Projekt Merwede halten? „Spannend“, sagt einer. „Vielleicht ein bisschen groß“, sagt eine junge Frau. Tatsächlich gibt es neben euphorischer Zustimmung für das ambitionierte Projekt auch kritische Stimmen.

Der Stadtrat hat Ende Februar zwar den Bebauungsplan für den ersten Bauabschnitt mit 4.200 Wohnungen genehmigt. Aber die Kritiker haben sich lautstark geäußert. Sie halten das Vorhaben für überdimensioniert, es sind ihnen zu viele Wohnungen auf zu engem Raum. Auch der Preis für die Appartements im mittleren Segment, bis zu 1000 Euro für 45 Quadratmeter, ist ihnen zu hoch. Geld fehlt außerdem noch für eine zusätzliche Straßenbahnlinie.

Ein Streitpunkt sind auch die Autoparkplätze, die nur in geringer Zahl, vergleichsweise teuer und nicht vor der Haustür vorgesehen sind. Schließlich werden zur Erschließung des Stadtteils auch neue Brücken über den Kanal gebaut. Dafür müssen Hausboote weichen. Anwohner in den angrenzenden Stadtteilen befürchten Lärmbelästigungen sowie ein erhöhtes Verkehrsaufkommen. Und auch die Ruderer sind nicht glücklich. Sie stören sich ebenfalls an den zusätzlichen Brücken.

Lesen Sie auch

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)