Um die Lockerung der Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus ist ein harter Meinungskampf entbrannt. Das frühzeitige Verbot von Großveranstaltungen, die freiwillige Abstandswahrung zu anderen, Händewaschen und Hustenhygiene sowie die spätere bundesweite Schließung von Schulen, Geschäften und Restaurants sowie die Begrenzung von Gruppen hat uns vor dem Schicksal Italiens, der Schweiz, Spaniens, Frankreichs, Belgiens und Großbritanniens bewahrt. Diesen Erfolg sollten wir nicht aufs Spiel setzen.
Manche Lockerungen in einzelnen Bundesländern sind „forsch, zu forsch“ (Angela Merkel). Wir haben erreicht, dass statistisch betrachtet ein Infizierter nur einen weiteren Menschen ansteckt. Zu große Lockerungen können dazu führen, dass aufgrund der damit einhergehenden größeren Mobilität und der größeren Nähe von Menschen ein Infizierter gleich mehrere andere Menschen ansteckt.
Wenn dies passiert, verbreitet sich das Virus mit immer größerem Tempo. Eine exponentielle Zunahme von Infizierten ist das Ergebnis. Da sich das Virus inzwischen nicht mehr nur auf den Süden und Nordrhein-Westfalen konzentriert, sondern über die ganze Republik verbreitet hat, wäre eine zweite Welle weit bedrohlicher als zuvor. Eine nicht mehr beherrschbare Überlastung der Krankenhäuser wäre unvermeidlich. Was das bedeutet, sehen wir jenseits unserer Grenzen.
Das generelle Infektionsrisiko muss in der gesamten Gesellschaft niedrig sein
Manche hoffen, man brauche nur die Gruppen mit dem höchsten Risiko zu schützen und könne die Beschränkungen für alle anderen aufheben. Einen wirksamen Schutz wird es aber nur dann geben, wenn das generelle Infektionsrisiko in der gesamten Gesellschaft niedrig ist. Zu weitgehende Lockerungen stehen dem entgegen.
Erstrebenswert wäre zu erreichen, dass vier bis fünf Infizierte nur noch einen weiteren Menschen ansteckten. Dann könnte der Öffentliche Gesundheitsdienst die gefährdeten Kontaktpersonen ermitteln und diese für eine beschränkte Zeit unter Quarantäne stellen. Die Ausbreitung des Virus wäre dann unter Kontrolle. Dann wäre auch eine nachhaltige Lockerung der Kontaktbeschränkungen möglich, die allen zugute käme, den Menschen und der Wirtschaft.
Man sollte den Präsidenten des ifo-Instituts Professor Clemens Fuest ernstnehmen: „Selbst wenn man gesetzliche Beschränkungen einfach aufheben würde: Die Wirtschaft kann nicht florieren, während ein gefährliches Virus grassiert.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel hat recht: „Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Luft ausgehen darf.“
Unser Gastautor ist Co-Leiter des Bremer Krisenstabs und Vorsitzender des Verbandsrats des Paritätischen Bremen. Er war Staatsrat und von Dezember 2012 bis Juli 2015 Senator für Gesundheit.