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Analyse: Das Ergebnis für CDU und Grüne Grüne Euphorie und schwarze Tristesse in Hessen

Die Grünen sind die großen Gewinner dieser Landtagswahl in Hessen. Sollte sich die schwarz-grüne Landesregierung halten können, ist dies vor allem ihr Verdienst. Im Bund steht Merkel nun unter Druck.
28.10.2018, 19:31 Uhr
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Von Marina Kormbaki und Daniela Vates

Es geht abwärts für die CDU in Hessen, zweistellig sogar, ein Absturz wie noch nie. Aber in der Parteizentrale in Berlin gibt es erst mal Applaus. Kanzleramtsminister Helge Braun steht entspannt lächelnd im Foyer und betrachtet die ersten Ergebnisse. Die CDU ist stärkste Kraft, Volker Bouffier wird wohl Ministerpräsident bleiben. Notfalls mit Jamaika, einem Dreierbündnis mit Grünen und FDP. Möglicherweise reicht es aber sogar für die Fortsetzung von Schwarz-Grün. „Wichtig ist, dass es keine linke Mehrheit im hessischen Landtag gibt“, sagt Braun. Und er wirkt wirklich entspannt. Es sind die so stark wie noch nie gewordenen hessischen Grünen, die an diesem Abend nicht nur Bouffier an der Macht gehalten haben. Indirekt haben sie auch der in jüngster Zeit parteiintern unter Druck geratenen Angela Merkel zumindest eine Verschnaufpause verschafft.

Das aus Sicht des Kanzleramts schlimmste Szenario ist abgewendet: Wäre Bouffier durch eine linke Mehrheit aus der Staatskanzlei vertrieben worden, hätte Merkel mit ihrer schnellen Entmachtung rechnen müssen. Ein Jamaika-Bündnis aber, wie in Kiel, wäre eine Nachricht, mit der Merkel leben kann. Auch eine Fortsetzung von Schwarz-Grün hätte keine destabilisierende Wirkung. Kann Merkel nun aufatmen? Als Gewinnerin jedenfalls steht sie nicht da. Die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte, dass auch innerhalb der CDU-Anhänger nur eine Minderheit Merkel als „hilfreich“ empfand in diesem zurückliegenden Wahlkampf. Die meisten fanden eher, dass sie „schadet“ oder „keine Rolle spielt“.

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Während die Union ihren Absturz betrachtet, feiern die Grünen einen Aufstieg, wie es ihn noch nie gegeben hat. Niemand passt mehr rein in den Fraktionssaal der Grünen im hessischen Landtag. Minuten vor Bekanntgabe der ersten Prognose recken Dutzende Grünen-Anhänger ihre Smartphones in die Höhe und schalten schon mal die Videofunktion ein. So ein Triumph will gut dokumentiert sein. Doch das klappt nicht so recht. Denn just als der grüne Balken in die Höhe schießt, geht ein euphorisches Beben durch den Saal. Lieber liegen sich die Grünen nun in den Armen als zu filmen.

„Ein wunderbarer Tag für uns Grüne“, sagt der Vize-Ministerpräsident und Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir. Das Wahlergebnis sei ein Auftrag zum Weitermachen, so der Wirtschaftsminister. Selbst im Moment seines Triumphs bleibt Al-Wazir seinem Politikstil treu: Stets sachlich bleiben, sich bloß nicht von Emotionen, gar Pathos hinfortreißen lassen. Vor zwei Wochen, als die Grünen zweitstärkste Kraft in Bayern wurden und in einer Münchener Konzerthalle feierten, sprangen Parteichef Robert Habeck und Spitzenkandidat Ludwig Hartmann von der Bühne und ließen sich von der Menge auf Händen tragen, wie Rockstars. Undenkbar bei Al-Wazir.

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Vor knapp fünf Jahren war er es, der gegen großen Widerstand in seiner Partei das erste schwarz-grüne Regierungsbündnis in einem Flächenland schmiedete. Al-Wazir glaubte, dass ausgerechnet die von der politischen Linken lange als „Stahlhelm-Fraktion“ bezeichnete stramm-konservative hessische CDU mit den als „Fundis“ geziehenen Grünen eine Regierung bilden könnte. Ein Experiment mit ganz gewissem Ausgang – einem schlechten, wie viele meinten. Doch CDU und Grüne hielten es eine ganze Legislaturperiode lang miteinander aus, mehr noch: Ihre Arbeit wird über die eigene Anhängerschaft hinaus als erfolgreich gewertet. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist gering, die Zufriedenheit im Land ist groß. Und, für die Grünen wichtig, bei den erneuerbaren Energien, dem Ökolandbau und dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs geht es voran. Al-Wazir und seine Ko-Spitzenkandidatin Priska Hinz würden gern weitermachen wie bisher, mit der CDU.

Die hessischen Wähler haben am Sonntag etwas Verblüffendes vollbracht: Während sie dem kleineren Regierungspartner ein Rekordergebnis bescherten, straften sie den größeren ohne Erbarmen ab. CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier mochte noch so oft seine Verdienste herausstreichen – die Integration der Flüchtlinge, den Ausbau der Universitäten, die niedrige Kriminalitätsrate. Seine Partei profitierte nicht davon. An Bouffier entlud sich die Unzufriedenheit über den Kurs und die Arbeit der Union im Bund. „Der heutige Abend ist ein Abend sehr zwiespältiger Gefühle“, sagt Bouffier unter trotzigem Applaus im Landtag. Er spricht von „schmerzhaften Verlusten“, kündigt Sondierungsgespräche mit den Grünen, aber auch mit der SPD und der FDP an. Bouffier, dem als Innenminister unter Roland Koch der Ruf des „Schwarzen Sheriffs“ anhaftete, wirkt ermattet.

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Rund 570 Kilometer liegen zwischen Wiesbaden und Berlin. Bouffier versuchte im Wahlkampf, diese Entfernung zu vergrößern. Er mühte sich um Distanz zur Berliner Koalition – seltsamerweise mit Hilfe aus Berlin. Sämtliche Parteigrößen sprangen ihm zur Seite und betonten, dass es am 28. Oktober um Hessen gehe: Annegret Kramp-Karrenbauer, Jens Spahn, Julia Klöckner, Paul Ziemiak. Und die Kanzlerin. Auf einem ihrer zahlreichen Wahlkampftermine wandte sich Angela Merkel ans Publikum: „Wenn Sie Wut haben auf das, was in Berlin läuft, schreiben Sie mir einen Brief – aber jetzt geht es um Ihre Heimat.“

Merkel hat sich in den letzten Tagen ins Zeug gelegt für ihren Vertrauten Bouffier. So sehr, dass seine Schwächung auch ihre ist. Das unprofessionelle Hin und Her in der Diesel-Frage dürfte daran großen Anteil haben. Merkel und Bouffier wollten Fahrverbote in Frankfurt abwenden, den Dieselfahrern Sicherheit vermitteln – und stifteten mit ihrem Vorgehen in den letzten Tagen vor der Wahl doch nur Chaos. Nach dem Debakel um die Zukunft von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen drängt sich erneut der Eindruck auf, dass der Kanzlerin die Dinge entgleiten.

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Seit 13 Jahren ist Merkel Kanzlerin, und noch nie stand sie politisch so unter Druck wie jetzt. Die hessische hat wie zuvor die bayerische Landtagswahl den Nimbus der Union als Garantin von Stabilität beschädigt. Mindestens ebenso stark, wie Berlin in die beiden Landtagswahlen ausgestrahlt hat, strahlt deren Ausgang nun zurück nach Berlin. Angela Merkel hat am Wahlwochenende den Blick schon mal weit in die Zukunft gerichtet, auf das Jahr der nächsten Bundestagswahl. Sie sei sicher, dass „wir in drei Jahren ein gutes Stück weiter sein werden“, sagt sie in ihrer wöchentlichen Videobotschaft. Vor dem ovalen Tisch im Kabinettssaal des Kanzleramts spricht Merkel von der Integration von Flüchtlingen. Die Terminlage will es, Zufall oder nicht, dass die Kanzlerin am Montag einen Integrationspreis verleiht. Es wirkt wie eine Art vorsorgliches Vermächtnis in Tagen, da alles möglich scheint in Berlin: der Bruch der Koalition, ein Aufstand in der CDU, der Rückzug Merkels aus ihren Ämtern.

Die Anspannung in der CDU ist groß. Zwar scheint der Machterhalt in Hessen dank der Grünen gesichert. Doch nach dem großen Stimmenverlust wird Merkel eine Debatte um ihre politische Zukunft wohl ertragen müssen. Mögliche Nachfolger bringen sich in Stellung: Gesundheitsminister Jens Spahn schaltete sich fleißig in den hessischen Wahlkampf ein. Schon am Abend stellte er eine Personaldebatte in der CDU in Aussicht. Wolfgang Schäuble, Ex-Finanzminister und jetzt Bundestagspräsident, brachte sich in Interviews in Erinnerung als möglicher Übergangskandidat für eine Regierung ohne Merkel.

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Und dann ist da noch Annegret Kramp-Karrenbauer. Die CDU-Generalsekretärin platzte jüngst mit einer deutlichen Aussage heraus. „Sollte die Regierung jetzt auseinanderbrechen, wird es auf Neuwahlen herauslaufen“, verkündete sie. Es war eine Absage an alle Spekulationen über Jamaika- und Minderheitsregierungen, mithin wohl auch an Schäuble. Aber es war auch ein Hinweis auf Kramp-Karrenbauers eigene Risikobereitschaft. Anders als Merkel hat Kramp-Karrenbauer gute Erfahrungen mit Neuwahlen: Sie schmiss vor einigen Jahren als saarländische Ministerpräsidentin die FDP aus der Regierung, die dann angesetzten Neuwahlen gewann die CDU klar. Merkel hatte Kramp-Karrenbauer damals abgeraten.

Die CDU-Generalsekretärin ist zuständig für die Deutung des Ergebnisses. Kramp-Karrenbauer spricht über die „gute Arbeit“ der Koalition, beklagt aber, diese werde zu oft durch Streit verdeckt. Dann folgt ein brisanter Satz. Bei der Frage nach der Zukunft der Kanzlerin windet sich Kramp-Karrenbauer. Die CDU müsse „in Loyalität gemeinsam die Weichen stellen“, sagt sie. Es ist eine Ermahnung an alle, die sich oder andere nach vorne schieben wollen. Sie ergänzt: „Die Bundesvorsitzende hat klar erklärt, dass sie auf dem Parteitag noch mal antritt. Bis zur Stunde habe ich keine anderen Signale.“ Bis zur Stunde.

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