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Deutsche Einheit Der Osten als Querschnittsthema

SPD, Grüne und FDP haben die historische Chance, die deutsche Einheit sozial, wirtschaftlich und personell zu vollenden. Denkbare wäre die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone, meint Anja Maier.
22.10.2021, 05:00 Uhr
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Von Anja Maier

Das Sondierungspapier der Ampel-Koalitionäre beginnt vielversprechend. Unter Punkt „Moderner Staat und digitaler Aufbruch“ findet sich ein Absatz zum Verhältnis zwischen Ost und West: Dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution bleibe es die Aufgabe der Politik, die innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden. „Viele Bürgerinnen und Bu?rger in Ostdeutschland haben im Wandel Erfahrungen gesammelt, die auch mit Bru?chen und Enttäuschungen verbunden waren. Daraus wollen wir fu?r die anstehenden großen Transformationsprozesse in ganz Deutschland lernen.“

Was nach der seit drei Jahrzehnten handelsüblichen Anerkennungsprosa klingt, kann auch als Vorwarnung gelesen werden – was wir vorhaben, wird einigen ziemlich weh tun. Deshalb schauen wir auf die Ostdeutschen: Wie sind sie nach 1989 mit ihren „Brüchen und Enttäuschungen“ umgegangen?

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Nicht so gut, könnte man sagen. Angesichts von immer noch ungleichen Löhnen und Renten, angesichts von sehr wenigen Ostdeutschen in Spitzenpositionen ist es noch ein weiter Weg zu Gleichwertigkeit. Wenn SPD, Grüne und FDP sich also ernsthaft vornehmen, hier etwas zu ändern, müssen sie das jetzt personell und inhaltlich darstellen. Doch danach sieht es gerade gar nicht aus. Ein Verhandlungsteam, dem erst eine Woche vor der konstituierenden Sitzung des Parlaments auffällt, dass ausschließlich Männer für die wichtigen Posten am Start sind, hat erst recht nicht die Ostdeutschen auf dem Schirm. Wer wie SPD, Grüne und FDP für sich beansprucht, „einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch auf Ho?he der Zeit“ auszurufen, ohne das diesen Aufbruch verkörpernde Personal mitzudenken, hat das Grundproblem nicht verinnerlicht.

Natürlich ist Ostdeutschland von außen betrachtet ein durchsanierter Teil der Bundesrepublik. Aber dass asphaltierte Straßen, traumhafte Landschaften und schöne Innenstädte alle Menschen dort zu Fans der jeweiligen Bundesregierungen gemacht hätten, kann man nicht behaupten. In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt hat Ende September annähernd jeder Fünfte Protest gewählt, also für die AfD gestimmt. In Sachsen und Thüringen war es jeder Vierte.

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Spricht man mit diesen Menschen, hört man immer wieder, rechts zu wählen sichere das Nötige an Aufmerksamkeit seitens der Politik. Vater Staat soll sich also dem störrischen Kind zuwenden – in dieser Erzählung spiegelt sich ein Unterlegenheitsgefühl, das das Abständige zur Politik illustriert. Eine moderne Ampelkoalition hätte deshalb nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Chance, dieses gesellschaftspolitische Verliererspiel endlich zu beenden.

Als erste und kostengünstigste Maßnahme sollte die nächste Bundesregierung das Amt des Ostbeauftragten abschaffen. Es mag 1998 noch eine gut gemeinte Idee gewesen sein, im Kanzleramt jemanden anzudocken, der sich für die Belange der „neuen Bundesländer“ einsetzt. Fast ein Vierteljahrhundert später wirkt das Ganze nurmehr wie ein staatlich bestellter Stimmungsaufheller ohne nennenswertes Budget.

Eine andere, deutlich teurere Maßnahme ist und bleibt die Aufwertung des Ostens für die Wirtschaft. Denkbar wäre etwa eine Sonderwirtschaftszone. Gute Stellen sind nach wie vor das überzeugendste Argument für gesellschaftlichen und sozialen Frieden. Bis heute findet sich zwischen Rostock und Suhl kein einziges Dax-Unternehmen. Dass große Unternehmen gerne dort produzieren lassen, um von den niedrigeren Löhnen zu profitieren, ist marktwirtschaftlich verständlich, zementiert aber das Gefühl von Ungleichwertigkeit.

Wenn schließlich der Bund als Arbeitgeber auftritt und im Osten Bundesbehörden mit gut bezahlten Arbeitsplätzen ansiedelt, ist das gut gemeint. Wenn aber an allen sieben Standorten ausschließlich Westdeutsche als Chefs berufen werden, wird das von den Leuten vor Ort sehr wohl registriert. SPD, Grüne und SPD sind gut beraten, bei den Koalitionsverhandlungen den Osten als Querschnittsthema mitzudenken und sowohl personell als auch inhaltlich kluge Richtungsentscheidungen zu treffen.

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