Linken-Chefin Janine Wissler versuchte gar nicht erst, die Lage zu beschönigen: "Wir haben alle gemeinsam mal tief in den Abgrund geschaut." Das sagte sie am Sonnabend nach dem Wahldesaster in einer Krisenrunde. Nur 4,9 Prozent der Stimmen bekam die Partei bei der Bundestagswahl und wäre damit an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Sie holte jedoch drei Direktmandate – das reichte haarscharf, um wieder in Fraktionsstärke im Parlament vertreten zu sein.
Doch das Ergebnis ist ein klares Warnsignal. Natürlich hat das miese Abschneiden am 26. September auch mit der momentanen Stärke von SPD und Grünen zu tun. An beide Parteien zusammen verlor die Linke mehr eine Million Wähler. Die Ursachen für die schon seit Jahren andauernde Krise sind aber viel komplexer als die Stärke zweier Konkurrenzparteien.
Es hilft ein Blick in die Wahlanalysen. Es gab Zeiten, da zogen die Dunkelroten vor allem die jüngsten und die ältesten Wähler an. Heute kommt die Linke bei den Erstwählern nur auf einen Anteil von schlappen sieben Prozent und liegt damit hinter FDP, Grüne, SPD und Union. Noch schlechter sieht es bei den Wählern im Alter über 60 Jahre aus: nur vier Prozent. Auch unter den Arbeitern musste sie Federn lassen, der Anteil beträgt nur fünf Prozent. Das ist schon fast peinlich für eine Gruppierung, die sich als Arbeiterpartei ansieht.
Noch erschreckender und fast schon vernichtend sind zwei weitere Werte. Bei Umfragen unter – parteiübergreifend – allen Wählern stimmen 70 Prozent der Meinung zu, dass die Linke "keine überzeugenden Führungspersonen" habe. Und 62 Prozent halten manche ihrer Positionen für "unrealistisch und nicht finanzierbar".
Das Spitzenpersonal der Linken ist in der Tat überschaubar. Kaum jemand kennt die Co-Vorsitzenden Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, gleiches gilt für Fraktionschefin Amira Mohammed Ali. Lediglich Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Es spricht Bände, dass die Linken-Spitze im Wahlkampf die Parteiveteranen Oskar Lafontaine und Gregor Gysi öfter auftreten ließ als eigentlich geplant. Und dann ist da noch Sahra Wagenknecht. Auch die frühere Fraktionschefin erwies sich in den Wochen vor der Wahl als Zugpferd.
Doch das Ehepaar Wagenknecht/Lafontaine sorgt auch für negative Schlagzeilen. Wagenknecht liegt mit Teilen der Partei über Kreuz, spätestens seit sie vor einem halben Jahr ihren Bestseller "Die Selbstgerechten" veröffentlicht hat. Darin rechnet sie zwar mit der Gender- und Identitätspolitik der gesamten bundesdeutschen Linken ab, nimmt aber ihre eigene Partei von der scharfzüngigen Kritik nicht aus. Das haben ihr viele Genossen übel genommen. Lafontaine, Fraktionschef im saarländischen Landtag, will bei Wahl im März nicht mehr kandidieren. Er hat sich mit Landeschef Thomas Lutze überworfen.
Die Streitigkeiten des Spitzenpersonals haben eine lange Tradition. Doch das allein taugt nicht als Erklärung für die Talfahrt. Noch bei der Bundestagswahl 2013 wurde die Partei drittstärkste Kraft, im Osten war man seinerzeit eine Macht. Gysi meint jetzt sogar, die Linke habe ihre Identität als Ostpartei verloren. Und der Ältestenrat, angeführt von Hans Modrow, bemängelt fehlende Basisarbeit und einen "Niedergang der politischen Substanz".
Da ist etwas dran. Auch im Bundestagswahlkampf ist es nicht gelungen, ein Thema zu bespielen, das jeder sofort mit der Linken hätte verbinden. Die SPD setzte erfolgreich auf soziale Gerechtigkeit und das Schlagwort "Respekt", die Grünen hatten das Klima. In der Linken ist auch die Kritik zu hören, dass sie jeder Bewegung hinterherlaufe und zuweilen auch grüner als die Grünen sein wolle.
Fundamentaler ist allerdings, dass die Linke als Reparaturbetrieb der Sozialdemokratie keine Zukunft mehr hat. Nach der Agenda 2010 waren viele Menschen von der SPD bitter enttäuscht und wendeten sich ab. Die Linke konnte die Rolle als "Kümmererpartei" der kleinen Leute einnehmen. Jetzt hat es die SPD vorgemacht – auch die Linken müssen sich neu erfinden.