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Hochwasser-Katastrophe Politik um Leben und Tod

Gegen den Landrat von Ahrweiler wird wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung ermittelt. Kann man ihm die Todesopfer anlasten? Von Politikern kann man keine Unfehlbarkeit erwarten, meint Silke Hellwig.
09.08.2021, 22:05 Uhr
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Politik um Leben und Tod
Von Silke Hellwig

Nein, in der Haut von Jürgen Pföhler möchte man nicht stecken. Der Landrat des Kreises Ahrweiler in Rheinland-Pfalz steht vor einem verwüsteten Landkreis. Einwohner und Einwohnerinnen haben den Tod von Angehörigen und Freunden zu beweinen, den Verlust ihrer Existenz, ihres Hab und Guts zu beklagen und zu bewältigen. Der Kreis ist nicht mehr, was er war. Allein die Schäden in kommunalen Einrichtungen wurde vor wenigen Tagen auf mehr als 3,7 Milliarden Euro beziffert. 

Die Aufnahmen aus Ahrweiler gehen über die Distanz von Hunderten von Kilometern unter die Haut – wie muss es erst sein, wenn man dort lebt oder arbeitet oder gar, wenn man gar Verantwortung trägt? Es braucht nicht viel Einfühlungsvermögen, um sich vorzustellen, wie belastend es sein muss, sich selbst immer und immer wieder zu fragen, ob man richtig gehandelt hat.

Der Landrat muss sich nicht nur selbst fragen, sondern sich auch fragen lassen – von Bürgern, von Medien, von der zuständigen Staatsanwaltschaft. Sie hat Ermittlungen gegen Pföhler (und ein Mitglied des Krisenstabs) eingeleitet. Es geht um nichts weniger als um den Verdacht der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen, wie es im Juristen-Deutsch heißt. Im Ahrtal kamen mindestens 141 Menschen ums Leben, mehr als 700 wurden verletzt. Ist die Bevölkerung zu spät evakuiert worden?

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Jürgen Pföhler ist promovierter Jurist und Christdemokrat, Jahrgang 1958, katholisch. Er wurde erstmals im Jahr 2000 direkt in sein Amt gewählt. Zuvor war er für mehrere Bundesministerien tätig, vier Jahre für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Für Schlagzeilen hat er bis vor wenigen Wochen offenbar nicht gesorgt.

Als Pföhler sein Amt antrat, war ihm bekannt, dass er Verantwortung in einem Umfang übernimmt, die über sein direktes Blickfeld hinausgeht. Doch Mitte Juli mussten im Ahrtal schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden, die weit über den üblichen Rahmen der Arbeit eines Verwaltungschefs reicht, die von keinem Kreistag beschlossen und damit abgesichert wurden.

Nicht anders erging es Adolf Sauerland (CDU), Oberbürgermeister Duisburgs, als im Jahr 2010 während der Loveparade 21 Menschen starben. Rund 650 Verletzte wurden gezählt. Er weigerte sich, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Die Bürger der Stadt jagten ihn über ein Bürgerbegehren aus dem Amt. Juristisch hatte er sich nichts vorzuwerfen. Sauerland selbst hat das Sicherheitskonzept nicht erarbeitet. Er sei als Mörder beschrien worden, man habe ihm nachgestellt, er habe seine Familie in Sicherheit bringen müssen, berichtete er im vergangenen Jahr der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

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Wie sehr die Last der politischen Verantwortung drücken kann, erleben seit Anfang 2020 auch die Mitglieder der Bundes- und der Landesregierungen. Sie sind angetreten, um Deutschlands Zukunft zu gestalten, nicht um über Leben und Tod zu entscheiden. Dass es anders kommen kann, wird beim Amtseid ausgeblendet. Noch nie seit 1945 waren Entscheidungen dieser Tragweite nötig. Mit oder am Coronavirus starben bundesweit bislang fast 92.300 Menschen.

In Italien ziehen rund 500 italienische Familien gegen ihre Regierung vor Gericht. Sie fordern Schadenersatz in Höhe von 100 Millionen Euro. Ihrer Meinung nach wäre der Tod ihrer Angehörigen vermeidbar gewesen, wenn die Regierenden umsichtiger gehandelt hätten. Auch die Republik Österreich muss sich vermutlich vor Gericht verantworten: Hunderte Klagen von Ischgl-Touristen werden erwartet.

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Welche Verantwortung oder gar Schuld tragen Politiker in dramatischen Situationen, auf die sich niemand vorbereiten kann? Zu zögern, zu zaudern, sich rundum abzusichern, ist in schweren Krisen selten hilfreich. Stattdessen wird erwartet, dass besonnen, aber entschlossen vorgegangen wird. Unfehlbarkeit kann man indes nicht erwarten.

Man muss vermuten, dass Jürgen ­Pföhler seines Lebens nicht mehr froh wird, so oder so. Er hat niemandem auf dem, aber für immer im Gewissen. Ist das nicht schon Strafe genug?

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