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Staatsverdrossenheit "Es ist die Mitte der Gesellschaft, die sich radikalisiert"

Andreas Speit ist Experte für Rechtsextremismus, er befasst sich auch mit Reichsbürgern und der Querdenker-Szene. Im Gespräch beschreibt er die Entwicklung und die Radikalisierung der Mitte der Gesellschaft.
03.07.2022, 10:35 Uhr
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Von Silke Hellwig

Herr Speit, laut jüngstem Verfassungsschutzbericht hat sich die Zahl der sogenannten Reichsbürger auf rund 21.000 erhöht. Halten Sie diese Zahl für realistisch?

Andreas Speit: In den vergangenen Jahren der Pandemie war zu beobachten, dass reichsideologische Argumente mehr und mehr Resonanz gefunden haben, vor allem im Spektrum der Querdenker. Seit Gründung der Bundesrepublik gab es immer wieder Personen, die Reichsideen verfolgt haben, auch Rechtsextreme. In den 1980er-Jahren zweifelten verstärkt Personen an, dass die Bundesrepublik einen Rechtsstatus hätte, sie riefen eigene Reiche aus. Sie gaben dieser Bewegung den Namen. Diese Delegitimierung des Grundgesetzes findet sich heute auch bei Querdenkerinnen und Querdenkern.

... die beispielsweise von einer Corona-Diktatur sprechen.

Ja, und so eben auch dem Grundgesetz den Verfassungsstatus absprechen. Im reichsideologischen Spektrum gibt es mehrere Varianten der Delegitimierung der Bundesrepublik. Für die einen existiert ein Deutsches Reich weiter, entweder seit 1917 oder seit 1933. Für andere ist die BRD ein Konstrukt der Alliierten, für dritte kein souveräner Staat, sondern eine Firma, die BRD GmbH.

Ein Unternehmen, das man einfach so verlassen kann?

... und teilweise eigene Staaten oder Königreiche gründen kann. Diese Bestrebungen und Vorstellungen mögen lächerlich und abstrus erscheinen. Jahrelang haben Sicherheitsbehörden, Politik und Verwaltung die Reichsbürger als Spinner und Verrückte abgetan und nicht sonderlich ernst genommen. Das Dramatische ist aber, dass politische Intention und der persönliche Charakter kaum trennbar sind und eine radikale Ausprägung bilden, der eine sehr aggressive Haltung gegen die staatlichen Repräsentanten innewohnt. Wenn der Staat einschreitet, fühlen sich diese Menschen nicht nur angegriffen, sondern sie denken, sie hätten jetzt das Recht, sich gegen ihn zu verteidigen.

Wie im bayerischen Georgensgmünd ...

Zum Beispiel. Dort ist 2016 bei dem Versuch der Entwaffnung eines Reichsbewegten ein Polizist zu Tode gekommen. Der Täter fühlte sich berechtigt, auf die vermeintlich fremde staatliche Macht zu schießen. Das ist die Radikalisierung, die diesem Spektrum eben innewohnt. Dieses Moment haben Politik und Sicherheitsstrukturen jahrelang ignoriert und die Menschen pathologisiert. Indem die psychologischen Auffälligkeiten gegen die politischen Positionen gestellt wurden, wurde der radikale politische Kern komplett relativiert.

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Wenn sich jemand zum König von Deutschland ernennt und sich einen Zobel um die Schultern hängt, wirkt das zunächst nicht sonderlich bedrohlich.

Der Fall in Georgensgmünd hat vieles verändert. Es gab in einzelnen Bundesländern, in denen Reichsbewegte schon massiv aufgetreten sind, schon zuvor größere staatliche Interventionen. Aber erst nach dem Tod des Polizeibeamten verändert sich die Wahrnehmung auf bundespolitischer Ebene, ein Umdenken findet statt, die Sicherheitsstrukturen werden neu organisiert – und die Zahlen der Reichsbürger sind nach oben geschossen. Das sind allerdings die Personen, die auffällig geworden sind. Sie haben sich quasi selbst geoutet, durch ihr Verhalten gegenüber Ordnungskräften oder Eingaben bei der Verwaltung. Mir scheint, dass Reichsbewegte mittlerweile aufpassen, nicht aufzufallen.

Ist es überhaupt möglich, in einem durchorganisierten und -bürokratisierten Staat wie Deutschland als Reichsbürger zu leben, ohne entsprechende Papiere, staatliche Ansprüche oder Versicherungen?

Peter Fitzek, der in Wittenberg ein Königreich gegründet hat und sich zum König Peter I. krönen ließ, verwebt Reichsideen mit einem esoterisch-alternativen Ansatz. Er spricht Menschen an, indem er ihnen eine vermeintliche Alternative aufzeigt zur feindlichen, kalten  rationalen Welt, wo man nur dem Geld hinterherrennt. Er schaffte es zeitweilig, ein ‚Imperium’ aufzubauen mit einer eigenen Bank, eigenem Geld und eigenen Versicherungen. Er hat Fantasieausweise ausgestellt und verkauft. Man hat ihn und seine Anhänger sehr lange gewähren lassen, bevor er wegen unzulässiger Versicherungsgeschäfte zu einer Haftstrafe verurteilt worden ist. Wenn der Staat nicht sofort einschreitet, fühlen sich diese Menschen legitimiert, das verbreitet sich in der Szene, die Zahl der Anhänger wächst weiter. Man kann als Reichsbewegter in Deutschland leben, wenn der Staat sich das bieten lässt.

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Sind Bremen und die hiesige Region eigentlich ein weißer Fleck auf der Landkarte der Reichsbürger?

Nein, 2020 hat der Verfassungsschutz rund 100 Personen der Bewegung zugeordnet. Die Zahl dürfte gestiegen sein. Auch in Bremen haben sich Querdenker und Querdenkerinnen Reichsideen zugewandt. In Delmenhorst gibt es auch schon seit Jahren eine reichsbewegte Szene. In Baden-Württemberg, Brandenburg oder Bayern ist diese Bewegung aber wesentlich stärker präsent.

Peter Fitzek ist offenbar dabei, Schlösser in Sachsen zu kaufen, um dort sogenannte Gemeinwohldörfer aufzubauen. Anwohner sind verärgert, dass das Land nicht einschreitet. Das erinnert an den Versuch, Rechtsextreme vom Kauf von Hotels und Gütern für Schulungszentren oder völkische WGs abzuhalten, indem Kommunen zugreifen – wie seinerzeit in Dörverden und Delmenhorst.

Man mag es gar nicht glauben, aber Fitzek ist es offenbar erneut gelungen, Millionen Euro zu akquirieren, obwohl gegen ihn wegen schwerer Untreue ermittelt wird. Bei einer Lesung in Wittenberg zu dem Band „Reichsbürger – die unterschätzte Gefahr“, den ich herausgegeben habe, erschienen Anhänger. Sie haben nicht gestört oder protestiert, sondern sich zu Wort gemeldet und diskutiert. Man merkte, dass sie bedrückt waren. Ich dachte automatisch, dass sie unglücklich sind, weil ihr Geld weg ist, aber sie sagten: "Nein, Peter ist weg." Darin zeigt sich der Sektencharakter dieser Gruppe.

Auch eine Nähe zum Rechtsextremen wird Peter Fitzek nachgesagt.

Die Szene ist vielfältig und diffus. Die Reichsbewegten haben kein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Es gibt viele Anknüpfungspunkte, und die Reichsbewegten stören sich auch nicht an den Rechtsextremen in ihren eigenen Reihen. Aber nicht alle, die der Reichsidee folgen, sind Rechte. Gemein haben sie aber die Delegitimierung des Staates, Verschwörungserzählungen, die Ableitung eines Rechts auf Widerstand, oft auch eine Art von strukturellem Antisemitismus und ein besonderes Verständnis von Familie und Geschlechterrollen.

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Ähnliches gilt für manche Querdenker. Die gedankliche Verbindung zu Reichsbürgern ist offenkundig, die Ablehnung des Staates und seiner Repräsentanten. Es scheint mit der Pandemie etwas aufgebrochen zu sein, was schon lange gärte ...

Es kommt etwas in Bewegung, was sich über Jahre in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entwickelte – wie die Entsolidarisierung der Gesellschaft durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik mit ihrem Glücksversprechen, dass es jeder zu etwas bringen kann, wenn er sich nur genug bemüht. Wir erleben zudem eine Kritik an der Repräsentanz der demokratischen Strukturen. Viele Bürgerinnen und Bürger glauben Politikern nicht mehr ohne Weiteres. Sie schätzen ihre Arbeit nicht mehr sonderlich. Die Strukturen der Demokratie werden nicht mehr wertgeschätzt.

Haben die Repräsentanten daran einen ­gewissen Anteil? Müssten sie sich mehr um Politikmüde und Staatsverdrossene bemühen?

Reichsbürger haben gerade im ländlichen Raum Resonanz. Das kann zumindest zu einem Teil auch daran liegen, dass sich der Staat dort mehr und mehr zurückgezogen hat. Nicht nur die Bank und die Post sind dort nicht mehr präsent, sondern auch die Verwaltung und Polizei haben sich aus kleinen Orten verabschiedet. Das kann dazu führen, dass man sich vom Staat alleine gelassen fühlt. Zudem sehen sich viele Menschen, die im Arbeitsleben am Band stehen oder im Supermarkt beschäftigt sind, die als Pfleger arbeiten oder als Erzieherin, in der Politik nicht mehr repräsentiert. Die Politik hat sich verbürokratisiert und verakademisiert – das ist ein großes gesellschaftliches Problem.

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Was wird aus den Querdenkern? Man hört nicht mehr viel von ihnen, aber wer von Corona-Diktatur redet oder sich als Ungeimpfter einen gelben Stern an die Kleidung heftet, wird nicht über Nacht seine Staatsverdrossenheit ablegen, oder?

Der Protest ist noch nicht beendet, es gibt hier und da Mahnwachen oder sogenannte Spaziergänge, aber er bekommt weniger Aufmerksamkeit. Staatlicherseits wird auch härter durchgegriffen: Spaziergänge wurden verboten, gegen diejenigen, die falsche Masken-Atteste ausgestellt haben, wurde vorgegangen, es gab Anzeigen wegen Volksverhetzung. Der Stuttgarter Michael Ballweg, der Begründer der Querdenker, sitzt in U-Haft, weil er Spenden veruntreut und Geld gewaschen haben soll.

Michael Ballweg werden auch Kontakte in die Reichsbürgerszene nachgesagt.

Ballweg ist im Grunde der Prototyp der neuen Protestbürger, die die Pandemie auf die Straße getrieben hat. Er ist bürgerlicher Herkunft und geht als Unternehmer einem bürgerlichen Beruf nach. Als sich das Virus in Deutschland zu verbreiten begann, war er auf dem Sprung, sich ein Jahr eine Auszeit zu nehmen und seine Yogakenntnisse in Asien zu vertiefen. In ihm vereint sich Bürgerlichkeit mit alternativem Habitus. Eine der ersten Studien der Uni Basel, die sich ausschließlich mit Protestierenden in Telegram-Kanälen und auf der Straße beschäftigt hat, hat ergeben, dass darunter etwa 23 Prozent Grünen-Wähler waren und rund 18 Prozent Linke-Wähler. 27 Prozent sagten, dass sie bei der nächsten Wahl AfD wählen würden, 18 Prozent eine Partei namens Die Basis, die aus diesem Protest entstanden ist.

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Was bedeutet das?

Die These der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uni Basel, die ich teile, ist: Diese Personen wählen links, leben auch alternative Ideen aus, kaufen im Bioladen, nutzen alternative Medizin, fahren E-Lastenräder, wenden sich Yoga oder Selbsterfahrungsseminaren zu, melden die Kinder in Waldorfeinrichtungen an. Alles Ideen, die aus der alternativen Subkultur kommen, aber längst Mainstream sind – und ihren solidarischen Kontext verloren haben. Man ist kein langweiliger Durchschnittsbürger, sondern hebt sich etwas ab und achtet auf sich. Die politischen Ideen werden zu habituellen Werten, die sich – überspitzt formuliert – auf das eigenen Ego und die eigene Familie beschränken. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer warnt nicht von ungefähr seit Langem vor einer „rohen Bürgerlichkeit“.

Was ist darunter zu verstehen?

Es ist die Mitte der Gesellschaft, die sich radikalisiert, und davon geht eine viel größere Gefahr aus als von Extremismus in seiner radikalsten Form. Die Querdenker-Bewegung zeigt, dass – vor allem im Westen – bürgerliche Menschen mit einem alternativen Habitus aufbegehren, weil der Staat sie in der Pandemie in einer Weise eingeschränkt hat, wie sie es niemals erwartet hätten und nicht gewohnt sind. Die Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik nicht so erschüttert wie die Pandemie. Vor dem Hintergrund dieser tiefen Erschütterung wird die Maskenpflicht als Meinungsdiktat und die Impfempfehlung als direkter Angriff auf den Körper verstanden. Das radikalisiert ganz enorm.

Diese Radikalisierung kann zu Reichsbürgern und Rechtsextremen führen?

Das ist eine von vier Tendenzen – ein Zusammenspiel mit dem rechtsextremen harten Milieu. Die zweite Tendenz ist eine Radikalisierung zur Tat. Die dritte ist eine Themenerweiterung: Nach dem Widerstand gegen Masken und Impfen verlagert er sich auf die Verleugnung des Klimawandels und die Behauptung, der Krieg in der Ukraine sei ein weiterer Versuch der Eliten aus dem Westen, die Welt neu zu gestalten. Die vierte Tendenz ist der Versuch des Aufbaus eigener Strukturen wie Schulen. Allen Tendenzen ist gemein, dass man sich vom Staat abwendet.

Inwieweit bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorgen?

Die Herausforderungen für die Gesellschaft wachsen weiter. Wir stecken immer noch in der Pandemie, der Krieg in der Ukraine hat konkrete Auswirkungen auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger. Er wird uns etwas kosten. Auf viele Familien kommen enorme Belastungen zu. Das gilt auch für den Klimaschutz, auch er wird uns etwas kosten. Das kann zu Verbitterung führen und „rohe Bürgerlichkeit“ forcieren. Vielleicht bietet es aber auch die Gelegenheit für neue Solidarität und neue Chancen, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Das Gespräch führte Silke Hellwig.

Zur Person

Andreas Speit

ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher über Rechtsextremismus. Er befasst sich auch mit Reichsbürgern und Querdenkern. Der Titel seines jüngsten Buchs lautet: „Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus“.

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