Sind die Ergebnisse der Studie für Sie eine Überraschung?
Katharina Kracht: Ganz im Gegenteil, die Studie bestätigt fast durchgängig, was wir Betroffene schon mindestens seit dem Hearing bei der Unabhängigen Aufarbeitungskommission in Berlin gesagt haben: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der evangelischen Kirche ist ein weitverbreitetes Problem. Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Die Tatsache, dass die Pastoren heiraten können, hat die Kinder und Jugendlichen nicht geschützt.
Was sagt die Studie zur Aufarbeitung in den Landeskirchen?
Die Studie zeigt ganz klar, welche Schwierigkeiten Betroffene in der Aufarbeitung erleben, wenn sie sich an die Kirche wenden. Es gibt überhaupt nur dann Aufarbeitungsprozesse, wenn Betroffene sie anstoßen. Die Mitarbeitenden der sogenannten Fachstellen sind oft überfordert. Betroffene fühlen sich unempathisch und unprofessionell behandelt. Sie berichten zum Beispiel immer wieder von Datenschutzverletzungen. Bislang konnte die Kirche sich immer auf den Mythos von Einzelfällen zurückziehen. Das wird sie jetzt nicht mehr können.
Wo hat die evangelische Kirche aus Ihrer Sicht in der Vergangenheit geschlafen?
Mir ist ganz wichtig zu sagen, dass die Kirche nicht nur in der Vergangenheit geschlafen hat, sondern mindestens auf Ebene der Landeskirchen und häufig auf der der Diakonie noch immer schläft. Auf EKD-Ebene hat es in den letzten Jahren viel Aktivität gegeben, aber die übersetzt sich eben nicht so automatisch auf die Ebene der Landeskirchen. Ein großes Problem ist, dass die evangelische Kirche immer noch behauptet, dass das Problem des Missbrauchs eher ein „katholisches Problem“ sei. Man hat das Problem noch nicht wirklich für sich erkannt. Und wenn man ein Problem nicht erkennt, dann kann man es auch nicht lösen.
Fühlen Sie sich als Betroffene heute ernst genommen?
Ich fühle mich als Betroffene heute noch weniger ernst genommen, als ich das 2015 tat, als ich mich bei meiner Landeskirche gemeldet habe. Da hatte ich noch großes Vertrauen. Dann habe ich leider auf Ebene der Landeskirche und auf Ebene der EKD viele sehr anstrengende und negative Erfahrungen machen müssen. Die evangelische Kirche hat kein Konzept, wie sie mit Betroffenen umgeht, die wirklich zeigen wollen, was passiert ist. Ich kriege leider auch viel von anderen Betroffenen mit: So hat eine Landeskirche einen wichtigen Antrag, der eigentlich an eine Versicherung gehen sollte, angeblich nicht erhalten, obwohl er postalisch an sie verschickt wurde. Das ist dieselbe Landeskirche, die auch bei mir den gleichen Antrag unnötig in die Länge gezogen hat und mir bei der Antragstellung Steine in den Weg gelegt hat. Ich verstehe solche Ausreden nicht. Ich hoffe aber, dass die Gesellschaft und auch die politisch Verantwortlichen jetzt genau hingucken und auch endlich mal Kontrollfunktionen oder so etwas wie ein Monitoring entwickeln.
Braucht es mehr staatliches Engagement bei der Missbrauchsaufarbeitung?
Das ist absolut wichtig. Alle Betroffenen brauchen das Recht auf individuelle Aufarbeitung, die Betroffenen in der Familie, die Betroffenen in den Schulen, die Betroffenen im Sport, wo auch immer der Kontext ihres Missbrauchs ist. Als eine Institution, die zum Beispiel immer im Ethikrat vertreten ist oder die auch in öffentlichen Schulen unterrichten darf, die so wichtige gesellschaftliche Aufgaben übernimmt und dafür auch sehr gut bezahlt wird, muss die evangelische Kirche aber mit besonderer Verantwortung handeln. Natürlich gibt es in den Kirchen ganz viele engagierte Menschen, die auch wirklich ehrlich das Thema voranbringen wollen. Die Kirche als Institution, die Landeskirchen, denen gelingt das aber bislang noch nicht. Da muss der Staat seine Mittel einsetzen und darauf hinwirken, dass die Betroffenen nicht alleine einer Organisation ausgeliefert sind, die leider allzu oft mit Täterschutz beschäftigt ist.