Herr Rücker, Sie arbeiten seit mehr als 30 Jahren in der Notfallmedizin. Was erleben Sie in Ihrem beruflichen Alltag in Zusammenhang mit Drogen?
Gernot Rücker: Ein großer Anteil der Einsätze, die Rettungsdienste zu bewältigen haben, haben mittelbar oder unmittelbar mit Alkoholkonsum zu tun. Nicht nur Unfälle sind Folgeerscheinung des Konsums, sondern auch sehr viele Krankheiten. Außerdem löst Alkohol immense Aggressionen aus. Beispielsweise beim Oktoberfest kommt es in jedem Jahr zu vielen Gewaltdelikten unter Alkoholeinfluss, zu Körperverletzungen und Vergewaltigungen. Ein großer Teil der Verletzungen, die auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind, gehen gar nicht in die Statistik ein. Wenn jemand auf dem Nachhauseweg betrunken stürzt, wird das nirgendwo erfasst.
Wie sieht es mit anderen Drogen aus? Wenn jemand bekifft am Steuer sitzt, zum Beispiel?
Solche Fälle gibt es ausgesprochen selten, weil die meisten Cannabis-Konsumenten dann keine Lust haben, Auto zu fahren. Grundsätzlich sollte man unter gar keinem Drogeneinfluss Auto fahren. Weder wenn man getrunken hat, noch wenn man Cannabis geraucht, Kokain geschnupft oder eine andere Substanz genommen hat.
Ein Leben ohne Rausch sei unvorstellbar, stellen sie eingangs Ihres Buchs mit dem Titel „Rausch“ fest. Inwiefern?
Wir sind hochreguliert, von der Gesellschaft, vom Gesetz. Deshalb muss sich der Mensch Räume schaffen, wo er seine ständige Selbstkontrolle runterfahren kann. Er braucht ein Ventil. Das geht bei entaktogenen Drogen wie Alkohol oder Ecstasy am besten im Rausch und im Kollektiv. Sie helfen, Schüchternheit abzulegen und den Kontakt zu anderen zu suchen. Hinzu kommt, dass man Annäherungsversuche im Rausch, zum Beispiel wenn eine Kellnerin begrabscht wird, eher durchgehen lässt. Die Gesellschaft billigt das offensichtlich.
Man will sich vergessen?
Das Lustsystem will einfach mal von der Leine gelassen werden. Das Unterbewusstsein übernimmt das Kommando und übertönt gewissermaßen die Stimme der Vernunft.
Treibt die postmoderne Leistungsgesellschaft mehr Menschen in den Rausch?
Absolut. Wir sind eine Turboleistungsgesellschaft. Wir eilen von Superlativ zu Superlativ. Immer besser, höher, schneller, effizienter. Das gilt für den Konsum, für den Lebensstil, für die Geschwindigkeit von Autos und auch für Drogen. Sie werden konsumiert, um nach einem stressigen Tag runterkommen oder um sich zu neuer Höchstleistung anzutreiben.

Gernot Rücker ist Notfallmediziner, Experte für Freizeitdrogenkonsum, Notfallmediziner und Autor des Buchs "Rausch".
Sie sind Experte für Freizeitdrogen. Kann Drogenkonsum eine Art Hobby fürs Wochenende sein?
Bei Freizeitdrogen geht es darum, Spaß zu haben, ohne tot umzufallen oder irgendwelche Schäden davonzutragen. Das klappt in vielen Fällen auch ganz gut. Was fatal ist, sind Alltagsdrogen, weil sie den Menschen vorgaukeln, mit ihren Problemen klarzukommen. Mit ihnen bringt man dann die Leistung, die von einem verlangt wird, oder man entkommt damit vermeintlich dem Druck.
Ihr Buch ist ein Plädoyer für einen bewussten Umgang und eine Neubewertung mit rauschauslösenden Substanzen. Was meinen Sie damit?
Rausch ist gesellschaftlich legitimiert, sonst wäre Alkohol verboten. Die Substanz, mit der man sich berauschen darf, ist aber willkürlich festgelegt, nämlich Alkohol. Man kann sich jedoch mit mehr als 1000 verschiedenen Substanzen berauschen. Die Mehrheit der in Deutschland gängigen 50 sind sogar sicherer als Alkohol. Seit Jahrzehnten wird aber jede Droge außer Alkohol als Teufelszeug verdammt – ohne eine wissenschaftliche Grundlage, ohne Daten zu sammeln, ohne diese Einschätzung zu überprüfen. Das ist total falsch. Wenn man den Bürgern Rausch erlaubt, müssen sie die Art des Rausches auch bestimmen können und vor allem: müssen sie die Chance haben, einen weniger gefährlichen Rausch zu wählen als den, den wir mit der legalen Droge Alkohol vorgeben. Ecstasy ist deutlich ungiftiger und ungefährlicher für einen Rauschzustand als Alkohol.
Sie plädieren auch dafür, Drogenkompetenz zu vermitteln. Wie ist das gemeint?
Wir müssen alles dafür tun, dass auch andere sichere Drogen konsumiert werden können. Wir müssen Kenntnisse über die Substanzen erlangen und neu bewerten, was gefährlich ist und was ungefährlich. Mein Buch ist auch dazu da, Wissenslücken über Drogen zu schließen. Nur dann ist eine Debatte möglich, die nicht ideologisch und ohne Sachkenntnis geführt wird, sondern auf Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wir können das seit Jahrzehnten ungelöste Drogenproblem nicht über einzelne Substanzen angehen, sondern nur im Block. Wir können uns nicht erst um Cannabis kümmern, dann um Ecstasy und dann um Heroin. Das Thema muss in Gänze betrachtet werden.
Warum tun wir uns damit so schwer?
Die Deutschen sind, was das angeht, ein sehr kontrolliertes und nur schwer belehrbares Volk, völlig drüber. Es ist hierzulande extrem schwierig, etwas aufzuheben, was man einmal verboten hat. Es ist unheimlich schwer, nach Jahrzehnten Ideologie und Ablehnung eine Allianz zu bilden, um neue Wege einzuschlagen. Mahner melden sich zu Wort und beschwören die Apokalypse herauf. Niemand will die Verantwortung übernehmen. Dabei kann auch eine Rolle spielen, dass Abgeordnete das Thema ohnehin meiden, weil einige von ihnen selbst unterschiedliche Drogen konsumieren. Politiker, die beim Bieranstich für Fotos posieren, können sich schlecht für ein Alkoholverbot starkmachen.
Manche räumen ein, dass sie als Jugendliche gekifft haben.
Das lässt die Bevölkerung gerade noch so durchgehen, aber es ist unvorstellbar, dass ein Politiker zugibt, dass er sich am Wochenende gerne mal einen Joint dreht. Im Übrigen lachen sich die acht Millionen Konsumenten ja krank, die es in Deutschland ungefähr gibt, wenn sie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach über die Gefahren von Drogenkonsum aufklären lassen will.
Was sagen Sie Eltern, deren Kind jeden Tag bekifft zur Schule geht?
Ganz schlimm. Ich sage ihnen, dass sie zuerst einmal alle ihre Alkoholvorräte unter Verschluss bringen sollen. Da fängt das nämlich an. Alkohol hat bis zum Alter von 21 Jahren im Hirn genauso wenig verloren wie alle anderen Drogen auch. Außerdem würde ich ihnen raten, schnell in die Hufe zu kommen, um zu ergründen, warum das Kind so zu leiden scheint, dass es sich jeden Tag bekiffen muss. Ich würde nicht auf die Art der Drogen gucken. Das ist in solchen Fällen nachrangig. Das eigentliche Problem muss erkannt werden ...
Unter bestimmten Umständen steigt die Gefahr, süchtig zu werden – es handelt sich, wie Sie beschreiben, meist um psychosoziale Probleme und seelische Verletzungen. Das gilt auch für Alkohol.
Es gilt gerade für Alkohol, weil er überall verfügbar ist. Beispielsweise an Tankstellen, das sollte umgehend verboten werden. Oder an den Kassen in Supermärkten. Das sind Triggerorte, die den Alkoholismus befeuern.
In Bremen vergrößert sich die Szene der Drogenabhängigen, vor allem durch Personen, die Crack konsumieren. Was macht diese Droge so gefährlich?
Crack ist eine der wenigen Drogen, wo der ein- oder zweimalige Konsum schon genügen kann, um abhängig zu werden. Die Droge macht euphorisch und lässt damit zunächst alle Sorgen vergessen. Am Beispiel Sex wäre das quasi Turbosex. Der Level wird verschoben. Einmal drin, ist es sehr schwer, davon wieder loszukommen.
Im Umgang mit Schwer- und Schwerstabhängigen, vor allem auch von Heroin, kommt Deutschland offenbar nicht voran.
Überhaupt nicht. Man muss verstehen, dass Opioidabhängigkeit zu den chronischen Erkrankungen zählt und wie Diabetes häufig ein Leben lang, also mit Substitution, behandelt werden muss. Aber es ist nach wie vor in den Köpfen, dass Abhängige Kriminelle seien, die clean werden müssen. Das ist grundlegend falsch. Alkoholiker müssen heute auch nicht mehr um jeden Preis trocken werden. Heroinabhängige müssen ihr Leben unter Kontrolle bekommen – mit staatlicher Hilfe. Substitution mit ärztlicher Begleitung kostet im Jahr vielleicht 60.000 Euro. Ein Schwerstabhängiger gibt jedoch locker 50.000 Euro für Stoff im Jahr aus. Das bedeutet aber, dass er Dinge im Wert von vielleicht 500.000 Euro klauen und dann verscherbeln muss, um dieses Geld aufzutreiben. Das ist volkswirtschaftlich kompletter Wahnsinn.
Frauen prostituieren sich häufig ...
Ganz genau: Eine junge Frau, die als Kind im familiären Umfeld missbraucht worden ist und unter einer Belastungsstörung leidet, entdeckt irgendwann, dass sie sich mit Drogen besser fühlt, dass ihr Seelenschmerz erträglicher wird. Ich sage gerne „wattieren“ dazu. Sie greift nach und nach zu immer mehr Drogen, bis sie abhängig ist. Sie muss dafür natürlich Geld beschaffen, und so führt die Vergewaltigung in letzter Konsequenz dazu, sich prostituieren zu müssen. Dazu kommt die Kriminalisierung. Die Gesellschaft hat hier komplett versagt, weil sie nicht ausreichend geschützt und therapiert worden ist. Das ist unerträglich.
Was ist zu tun?
Wenn eine Gesellschaft ein Recht auf Rausch einräumt, gibt es auch ein Recht auf Therapie. Das ist das eine. Dazu gehört, diesen Menschen eine neue Aufgabe und eine Perspektive zu geben. Dafür muss Geld in die Hand genommen werden. Das ist aber nichts im Vergleich zu den Beträgen, die Drogenkranke Tag für Tag vernichten, weil sie erkranken oder kriminell werden müssen, um ihre Sucht zu finanzieren. Bei Alkoholkranken ist das Gesundheitssystem finanziell genauso hochgradig belastet. Um die 200 Krankheiten sind auf Alkoholkonsum zurückzuführen.
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Ihr Buch fällt auf, weil Sie einen sehr direkten, manchmal flapsigen Ton anschlagen. Wie ist das bei Leserinnen und Lesern angekommen?
Es gibt ein paar Kommentare in der Art: Spinnt der? Wie kann der Arzt sein? Aber das ist mir egal. Ich sehe so viel Elend, da prallt das an mir ab. Ich bin so. Ich halte auch meine Vorlesungen so. Ich verstelle mich nicht, auch nicht als Autor. Ich glaube, dass das Buch so eindringlicher ist, und das habe ich auch schon von Lesern gehört, die selbst trinken, getrunken oder einen Alkoholiker in der Familie haben.
Bemerkenswert ist der Anhang zur Ersten Hilfe. Wie kam es dazu?
Ich bin Vollblutmediziner und setze mich schon lange dafür ein, dass in der Schule Wiederbelebung gelehrt wird. Es ist wichtig, dass sich Menschen trauen, anderen zu helfen. Auch beim Drogenkonsum kommt es immer wieder zu Vergiftungen und zu Todesfällen, die vermieden werden könnten, wenn sich Umstehende ein Herz fassen und wiederbeleben würden.
Sie selbst berauschen sich nicht mit irgendwelchen Substanzen. Wie erklären Sie sich das?
Vermutlich liegt es daran, dass ich es hasse, die Kontrolle zu verlieren. Ich war zweimal in meinem Leben betrunken – bei meiner Konfirmation musste ich in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, an jeder Haustür einen Schnaps trinken. Außerdem habe ich keinen Anlass, meiner Lebensrealität zu entfliehen. Mein Job kommt mir noch nicht mal wie Arbeit vor. Ich kann es manchmal kaum abwarten, wieder zur Arbeit zu gehen. Das ist ein großes Privileg.