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Kommentar zu SPD und Gewerkschaften Seit' an Seit' das war einmal

SPD und Gewerkschaften streiten über die Autokaufprämie. Der Widerstand gegen die Forderung von Autokonzernen und Arbeitnehmervertretern zeigt, auf welch riskantem Weg sich die Partei befindet.
11.06.2020, 05:00 Uhr
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Seit' an Seit' das war einmal
Von Norbert Holst

Das hat es aber ordentlich Wums gemacht. Daimler-Betriebsratschef Michael Brecht hält der SPD-Spitze vor, dass die Kollegen in der Automobil- und Zuliefererindustrie „stinksauer“ seien, IG-Metall-Chef Jörg Hofmann spricht von einem „massiven Vertrauensverlust“. Es knirscht momentan zwischen Arbeitnehmervertretern und SPD. Der Grund ist die umstrittene Autokaufprämie. Die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans wollen jedoch nicht klein beigeben und verteidigen vehement ihre Ablehnung der Prämie, die es im Konjunkturpaket der Regierung nun lediglich für E-Autos gibt.

Der Knatsch ist jedoch kein zufälliger Ausrutscher. Das neue Führungsduo blieb ganz bewusst und sehenden Auges bei der Ablehnung der Kaufprämie, als vergangene Woche die entscheidenden Verhandlungen in der Großen Koalition anstanden. Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass nun ausgerechnet eine linke Parteiführung dem Druck von Gewerkschaft und Betriebsräten standhaft bleibt. Und mehr als das. Walter-Borjans geht zum Gegenangriff über: Die Autokonzerne hätten doch mit der Prämie gefordert, „dass der Steuerzahler als Ausfallbürge bei Boni für Bosse und Dividenden für Aktionäre herhalten soll“.

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Doch im Kern geht es bei dem Streit um weit mehr als eine simple Verteilungsfrage. Es geht um die Zukunft – politisch wie wirtschaftlich. Und die Rollen sind klar verteilt: Die IG Metall steht eher für die Traditionalisten, die in Krisenzeiten auf Sicherung der Jobs und staatliche Alimentierung des Status quo setzen. Das sehen manche SPD-Mitglieder ganz ähnlich, aber eben nicht die Parteispitze. Sie meint, eine Unterstützung der Automobilindustrie müsse „nach vorne in die Zukunft“ gerichtet sein, wie etwa im Falle von Elektroautos.

Natürlich ist es schon sehr lange her, dass Gewerkschaften und SPD Seit' an Seit' marschierten, wie es in einer Hymne der deutschen Arbeiterbewegung heißt. Schließlich versteht sich die SPD seit dem Godesberger Programm von 1959 ganz offiziell als Volkspartei. Doch ein enger Bund zu den Gewerkschaften blieb den Sozialdemokraten wichtig, auch wenn es immer wieder zu Irritationen zwischen beiden Seiten kam. Bei Willy Brandt standen andere politische Projekte im Vordergrund, Helmut Schmidt verärgerte die Gewerkschaften mit seinen Maßnahmen gegen die Folgen der Ölkrise.

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Und Gerhard Schröder galt zunächst als „Genosse der Bosse“, um schließlich mit der Durchsetzung der Hartz-IV-Gesetze die Arbeitnehmervertreter so richtig gegen sich aufzubringen. Ab 2009 entspannte sich aber unter dem Führungsduo Andrea Nahles und Sigmar Gabriel das Verhältnis, auch dank Mindestlohn und abschlagsfreier Rente ab 63.

Und nun gibt es wieder Zoff. Esken und Walter-Borjans brauchen Erfolge, wenn sie den Niedergang der SPD stoppen wollen. Sie versuchen im linksliberalen und ökologischen Milieu zu wildern, nehmen dafür aber Einbußen bei ihrer alten Klientel in Kauf. Der Weg ist riskant – aber wohl auch alternativlos. Denn die Partei hat nicht nur politische Defizite – zum Beispiel fehlt ihr immer noch ein klares Konzept für die Digitalisierung –, sie hat auch ein Strukturproblem.

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Das Durchschnittsalter der Partei liegt bei 60. Nur noch 16 Prozent der Mitglieder sind Arbeiter, der Anteil der Angestellten und Beamte ist weitaus höher. Bei den Wählern sieht es nicht viel besser aus. Bei der Bundestagswahl 2017 haben sich die Verluste auf alle Altersgruppen gleichmäßig verteilt; nur die über 70-Jährigen hielten der SPD noch einigermaßen die Treue. Auch bei jungen Menschen kommen die Sozialdemokraten nicht mehr an: Bei der Bürgerschaftswahl 2019 in Bremen haben nur 13 Prozent der Wähler im Alter unter 25 Jahren für die Genossen gestimmt.

Esken und Walter-Borjans versuchen die Flucht nach vorn. Sie wollen nicht nur „Klassiker“ wie Familienarbeitszeit und Anti-Steuersenkungs-Kurs besetzen, sondern auch Themen wie Klimaschutz, Rassismus oder Datenschutz. Und lassen von angestaubten Modellen wie der Autoprämie die Finger. Das ist mutig, doch ohne Erfolgsgarantie. Im Zweifelsfall entscheidet sich der Wähler für das Original.

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