Die Impfungen sind schleppend und auch nicht so wie versprochen angelaufen. Können Sie verstehen, dass die Menschen verärgert sind?
Ursula von der Leyen: Ja, ich kann die Frustration der Menschen und auch derjenigen, die in den Impfzentren arbeiten, gut nachvollziehen. Es sind zwei Dinge zusammengekommen. Wir haben schneller wirksame Impfstoffe gefunden, als es zu erwarten war. Normal dauert das fünf bis zehn Jahre. Das ist eine großartige Leistung der Wissenschaft. Aber wir wussten nicht, dass das Hochfahren der Massenproduktion und das Überwinden von Anfangsproblemen so schwierig sein würde. Ich verstehe die Ungeduld sehr gut, dass die Bürger jetzt, wo der Impfstoff da ist, auch so schnell wie möglich geimpft und endlich geschützt sein wollen.
Die CSU hat am Montag eine „Liste des Versagens“ in Umlauf gebracht, in der gleich reihenweise die Versäumnisse der EU-Kommission angeprangert werden. Ärgert Sie das?Kritik gehört dazu. Aber ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn heute nur zwei oder drei Länder Zugang zu Impfstoffen hätten und der Rest der Europäischen Union leer ausgegangen wäre. Das hätte unsere Gemeinschaft zerrissen. Hinzu kommt: Eine solche Entwicklung wäre Gift für den Binnenmarkt gewesen. Denn die Wirtschaft in der EU – auch die deutsche – ist miteinander verflochten und nur deshalb so stark, weil wir enge Beziehungen zu unseren Nachbarn haben. Insofern bleibt der europäische Weg trotz aller Hindernisse die richtige Entscheidung.
Ja, dank des europäischen Ansatzes haben wir heute ein breites Angebot an Impfstoffen, die wir auch gegen die Mutationen nutzen können. Wir haben auf sechs Hersteller gesetzt, drei davon sind inzwischen zugelassen und weltweit nachgefragt, zwei befinden sich kurz vor der Zulassung. Unsere Strategie ist aufgegangen. Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt. Bisher wurden 41 Millionen Dosen ausgeliefert, und es kommen absehbar deutlich größere Mengen.
Die Kommission hat als Vorgabe für die Mitgliedstaaten ausgegeben, dass bis zum Sommer 70 Prozent der erwachsenen EU-Bürger geimpft sein sollen. Dieses Ziel geben Sie noch nicht verloren?Ich bin da zuversichtlich. Aber eine Bilanz können wir erst am Ende des Sommers ziehen. Das ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Wir müssen zusammenhalten, denn nur dann haben wir genügend Stärke, um uns auch den Unwägbarkeiten wie den neuen Varianten zu stellen.
Die EU war zu langsam. Was können Sie denn jetzt tun, um die Herstellung, die Zulassung und dann die Bereitstellung der Vakzine zu beschleunigen?In 130 Ländern der Welt wurde noch niemand geimpft. Europa gehört zu den Ersten, wenn auch mit weniger Dosen in der Startphase als erwartet. Wir sind mit den Herstellern der Impfstoffe ständig im Gespräch und gehen die Punkte durch. Was wird gebraucht, um die Produktion auszubauen? Wo gibt es Ansatzpunkte, um die weltweiten Zulieferketten zu stärken und knappe Rohstoffe in ausreichender Menge zu besorgen? Wie können Daten aus der Unternehmensforschung direkt an die Europäische Arzneimittel-Agentur fließen, damit die Zulassung schneller kommen kann ohne Abstriche bei der Sicherheit? Dieses Vorgehen ist nicht nur jetzt nötig, um mehr Vakzine verimpfen zu können. Wir wollen dadurch auch sicherstellen, dass wir schneller reagieren können, wenn neue Varianten auftauchen und wir angepasste Impfstoffe brauchen.
Die neuen Varianten sind sehr ernst zu nehmen. Gut ist, dass die zugelassenen Impfstoffe größtenteils wirken. Aber wir alle sind immer noch dabei, das Virus besser kennenzulernen. Nur wenn in allen Staaten die Sequenzierung, also eine Analyse der positiven Proben stattfindet, können wir schnell feststellen, wann und wo sich neue Varianten bilden. Zugleich laufen bereits die Vorbereitungen mit den Pharma-Firmen, damit wir schon beim Auftreten einer gefährlicheren Variante die Impfstoffe anpassen. Dazu investieren wir massiv in die Forschung und einen schnelleren Datenfluss. Und zum dritten arbeiten wir an einem Netz an Produktionsstätten, die in der Lage wären, einen verbesserten Impfstoff rasch zu produzieren. Das zeigt, wie wichtig es ist, alle Kräfte zu bündeln. Dies schafft kein Land allein.
Wir haben zwar drei zugelassene Impfstoffe, aber einer davon aus dem Hause Astra-Zeneca bleibt nicht nur in Deutschland liegen. Wurde das Vakzin im Streit mit dem Hersteller regelrecht kaputtgeredet?Ich würde mich mit dem Vakzin von Astra-Zeneca genauso bedenkenlos impfen lassen wie mit den Produkten von Biontech/Pfizer oder Moderna. Als wir vor zehn Monaten anfingen, aus den Hunderten von Kandidaten die vielversprechenden herauszusuchen, gingen wir von einer Wirksamkeit zwischen 50 und 70 Prozent aus. Nun liegen alle darüber. Das Vakzin wurde sorgfältig geprüft, für sicher und wirksam befunden und zugelassen.
Aber Europa hinkt hinterher.Wir holen auf. Großbritannien hat 17 Millionen erste Dosen verimpft. In der EU sind es 27 Millionen. In Italien mit einer ähnlichen Bevölkerungsgröße wie Großbritannien erhielten sogar schon doppelt so viele Bürger mit der zweiten Dosis den vollen Impfschutz wie im Vereinigten Königreich.
In Europa gibt es wieder geschlossene Grenzen. Die Kommission hat Deutschland und einige andere Länder deswegen abgemahnt. Wurde nichts gelernt aus den Ereignissen vor einem Jahr?Es ist richtig und grundsätzlich zulässig, dass Deutschland und andere gezielt dort eingreifen, wo das Virus gestoppt werden muss. Insbesondere die neuen Varianten dürfen sich nicht ausbreiten. Deshalb sind Reisebeschränkungen zielgenauer. Und die sollten verhältnismäßig sein und vorher angekündigt werden. Pauschale Grenzschließungen sind problematisch. Sie treffen jeden und legen im schlimmsten Fall die soziale Infrastruktur eines Nachbarlandes still, weil – wie in Luxemburg – die Mitarbeiter des Gesundheitssystems nicht mehr zur Arbeit fahren können. Unsere Lebensadern müssen wir aufrechterhalten. Deswegen ist es gut, dass Deutschland Ausnahmen eingeführt hat.
Ursula von der Leyen (62)
ist seit Dezember 2019 Präsidentin der Europäischen Kommission – die erste Frau, die diesen wichtigsten Posten der EU innehat. Die CDU-Politikerin wurde von den Staats- und Regierungschefs nach der Europawahl überraschend nominiert, nachdem keiner der Spitzenkandidaten beim Urnengang eine Mehrheit auf sich vereinigen konnte. Vor ihrem Wechsel nach Brüssel war sie Bundesverteidigungsministerin im Kabinett von Angela Merkel.