„Putin nutzt jede Gelegenheit“
Die Lage in der Ostukraine ist derzeit relativ ruhig, doch der Waffenstillstand ist weiterhin fragil. Wie es in dem Konflikt weitergehen kann und welche Rolle insbesondere Russlands Präsident Wladimir Putin spielt, darüber sprach Ben Zimmermann mit dem Osteuropa-Wissenschaftler Heiko Pleines.
Das erste Minsker Abkommen kann man wohl als gescheitert betrachten, und die Vereinbarungen von Minsk II werden auch unterlaufen. Ist das Papier ebenfalls Makulatur?
Heiko Pleines: Die Frage ist: Wie hoch hängt man die Erwartungen? Dass es nun eine reelle Chance auf eine Waffenruhe gibt, ist schon ein Fortschritt. Das bedeutet ja auch, dass es keine größeren Eroberungen mehr gibt. Damit dieser Waffenstillstand hält, müssen nun die schweren Waffen zurückgezogen und eine Pufferzone eingerichtet werden. Das ist meiner Meinung nach das Maximale, worauf man sich derzeit einigen kann.
Wenn es schon so schwer ist, einen Waffenstillstand zu vereinbaren und durchzusetzen, wie kann dann der Konflikt dauerhaft gelöst werden?
Im Augenblick geht es darum, einen Modus vivendi zu finden. Es müssen beispielsweise Fragen geklärt werden hinsichtlich der Erdgas- und Stromversorgung, der Rentenzahlungen und der Geldtransfers.
Das würde eine Zementierung des Status quo bedeuten – was Kiew nicht hinnehmen wird.
Die politische Lösung, die in den Minsker Vereinbarungen steht, ist utopisch. Sie würde bedeuten, dass die Separatisten sagen: Das war‘s, wir gehen nach Hause und beteiligen uns an Wahlen. Das werden sie aber nicht tun. Denn ihre einzige Chance, Wahlen zu gewinnen, ist die, andere Parteien nicht zuzulassen, was sie bereits im Herbst praktiziert haben. Die Rebellen schaffen Fakten und unterlaufen getroffene Vereinbarungen – aber immer nur soweit, dass ihnen kein kompletter Bruch der Minsker Abmachungen vorgeworfen werden kann.
Das heißt, die Auseinandersetzung wird zu einem frozen conflict, einem eingefrorenen Konflikt, was zumindest die eine Seite kaum akzeptieren kann.
Das halte ich für das mit Abstand wahrscheinlichste Szenario. Genauso sieht es ja auch in Moldau und Georgien aus. Die spannende Frage ist, inwieweit Moskau bereit sein wird, Geld in die Separatistengebiete zu stecken. Denn ohne russische Hilfe sind sie nicht überlebensfähig.
Ist mit der Ostukraine der Hunger der Separatisten respektive Putins gestillt, oder halten Sie Szenarien wie die Eroberung des Landkorridors zur Krim beziehungsweise der gesamten Südukraine bis hin zur Republik Moldau für wahrscheinlich?
Das glaube ich nicht. Es passt nicht zu dem, was wir bisher gesehen haben.
Die Separatisten stehen kurz vor Mariupol...
... doch von dort bis zur Krim ist es noch sehr weit. Man darf sich nicht täuschen: Putin ist auf seine hohe Popularität in der russischen Bevölkerung angewiesen. Die Annexion der Krim, die keine Opfer gekostet hat, war populär. Doch weitere großräumige Eroberungen – mit vielen eigenen Toten – wären das nicht. Der zweite Grund, der dagegen spricht: Ein Landweg zur Krim mit einer langen Grenze zur Ukraine wäre sehr schwer zu verteidigen.
Was ist eigentlich Putins Ziel in diesem Konflikt?
Ich glaube, Putin hat keinen wirklichen großen Plan.
Er verhält sich nur taktisch?
Ja, er nutzt jede Gelegenheit, die sich ihm bietet. Sein zentrales Ziel ist es, die Kontrolle zu behalten – zum einen über Russland selbst, zum anderen auch über die ehemaligen Sowjetrepubliken. Das hat er in der Ukraine jetzt auch erreicht: Russland ist ein ständiger Störfaktor und kann jederzeit Probleme bereiten.
Das heißt, Putin hat kein Interesse an einer Lösung des Konflikts?
Genau. Er will verhindern, dass sich die Ukraine konsolidiert und ein Erfolgsmodell wird. Damit erreicht er mehrere Ziele: Die Ukraine kann nicht in die NATO; er zeigt der EU, dass sie aus seiner Einflusssphäre keine Länder erfolgreich herausbrechen kann; und die russische Bevölkerung sieht: Die Alternative zu einem zunehmend autokratischen Herrscher heißt nicht Wohlstand, sondern Chaos.
Die USA denken über Waffenlieferungen an die Ukraine nach, Deutschland lehnt sie ab. Was halten Sie davon?
Die ukrainische Armee scheint in der Lage zu sein, ihre Stellungen halbwegs halten zu können. Wenn das so ist, können zusätzliche Waffen eigentlich nichts bringen. Denn es ist keine Option, die Separatistengebiete zurückzuerobern – wenn man nicht sehr viele zivile Opfer in Kauf nehmen will. Wenn Kiew das wollte, könnte man einfach die Luftwaffe einsetzen und das Gebiet bombardieren. Das wird aber niemand tun. Ich glaube, der Regierung geht es nicht so sehr um mehr und bessere Waffen, sondern vor allem um den symbolischen Wert von Rüstungslieferungen: um die Hilfe des Westens auch bei der militärischen Seite des Konflikts.
Was denken Sie über den Vorschlag von Präsident Poroschenko, EU-Polizisten mit UN-Mandat ins Krisengebiet zu entsenden?
Auch UN-mandatierte Friedenstruppen kommen erst, wenn nicht mehr gekämpft wird. Doch der Waffenstillstand ist noch brüchig. Ich halte die jetzige Regelung, dass OSZE-Beobachter vor Ort sind, für sinnvoller. Sie sind neutral; eine EU-Mission würde von Russland als parteiisch angesehen werden.
Russlands Nachbarn sind alarmiert: Litauen plant eine Wiedereinführung der Wehrpflicht, in Estland nehmen US-Truppen an einer Militärparade teil. Wie real ist die Bedrohung wirklich?
Ich sehe diese Gefahr nicht, weil ich nicht glaube, dass Putin ein Amokläufer ist. Selbst wenn er das wäre, würde es sein Apparat kaum einfach so mitmachen. Und ein Vorgehen wie in der Ukraine wäre kaum möglich, weil die NATO die Grenzen wirksam kontrollieren kann. Allerdings: Auch eine gefühlte Bedrohung, die man selber nicht für realistisch hält, muss man in der Politik ernst nehmen. Das trifft auch auf Russlands Furcht vor der NATO zu.
Zur Person
Prof. Heiko Pleines (44) leitet den Arbeitsbereich Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Uni Bremen und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Russland und der Ukraine.
Ukrainisches Militär im umkämpften Gebiet: Die Truppen werden die Separatisten nicht zurückdrängen können, meint Heiko Pleines. FOTO: AFP
Jetzt sichern: Wir schenken Ihnen 1 Monat WK+!