Viktor Orban geht seinen eigenen Weg. Während in anderen EU-Staaten derzeit eine Debatte darüber geführt wird, ob und inwieweit die Freiheits-Grundrechte der Bevölkerung hinter dem Gesundheitsschutz zurückstehen müssen, hat das ungarische Parlament ihn mit umfassenden Sonderrechten ausgestattet – eine Zwei-Drittel-Mehrheit seiner Fidesz-Partei macht es möglich.
Umso wichtiger wäre deshalb eine außerparlamentarische Kontrollinstanz: die Medien. Denn es gibt sie, die Menschen in Ungarn, die mit der politischen Linie Orbans nicht einverstanden sind. Insbesondere in der Hauptstadt Budapest, der seit Oktober vergangenen Jahres ein grüner Bürgermeister vorsteht. Doch oppositionelle Meinungen finden wenig Gehör, weil unabhängige Berichterstattung in dem EU-Staat kaum noch möglich ist.
In den Jahren seiner Regentschaft hat es Orban geschafft, die Medien auf Linie zu bringen. Knapp 80 Prozent von ihnen, öffentliche wie private Medienunternehmen, sind mittlerweile regierungsnah, belegt eine Studie des Medienmonitors „Mertek“ aus dem vergangenen Jahr. Diese Tendenz wird veranschaulicht durch die Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“: Bei Amtsantritt Orbans 2010 stand das Land noch auf Platz 23, im April 2020 nur noch auf Platz 89 – ein Absturz um 66 Plätze in zehn Jahren.
Das allein jedoch ist nicht Anstoß der Diskussionen um Orbans Verhältnis zu Freiheit und Demokratie im Allgemeinen und zur Pressefreiheit im Besonderen. Im März erließ er das „Gesetz Nr. XII aus dem Jahre 2020 zur Eindämmung des Coronavirus“. Darin heißt es: „Wer (...) vor einer großen Öffentlichkeit eine unwahre Tatsache oder eine wahre Tatsache verdreht behauptet oder verbreitet, die die Effizienz der Bekämpfung behindert oder vereitelt, ist wegen eines Verbrechens mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“
Die Suche nach der Wahrheit
Diese Passage birgt für Journalistinnen und Journalisten mehrere Fallstricke. Wann ist eine Öffentlichkeit groß? Wodurch wird die Effizienz der Bekämpfung behindert? Und vor allem: Was ist die Wahrheit angesichts eines kaum erforschten Virus? Ein Beispiel aus Deutschland zeigt das Dilemma: Während vor Ostern der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet zusammen mit dem Virologen Hendrik Streeck für eine sofortige Lockerung der Kontaktbeschränkungen in ganz Deutschland warb, hielten kurz darauf die Wissenschaftler der Helmholtz-Gemeinschaft möglichst strikte Beschränkungen für angebracht, um dem Virus zu begegnen.
Mit solchen Debatten braucht sich Orban nicht herumzuschlagen, er hat Fakten geschaffen. Mit dem Notstandsgesetz ist künftig wahr und absolut, was seine Regierung sagt und tut. Zweifel und Kritik sind nicht angebracht, sonst droht Gefängnis. Ein Gegenmittel für das Virus gibt es nicht, doch ein weiteres Mittel gegen unliebsame Berichterstattung ist offenbar gefunden.
Ob es demnächst aber tatsächlich zu Haftstrafen kommen wird, ist fraglich. Denn in Ungarn steigt der Wunsch nach unzensierten Informationen. Die Menschen fragen sich, ob die Regierung mit der Krise wirklich angemessen umgeht. Unabhängige Internetportale bekommen Zuspruch. Schon vor Verabschiedung des Gesetzes sagte ein Journalist der liberalen Wochenzeitung „Heti Vilaggazdasag“: „Auch die Fidesz-Anhänger kommen auf die Internetseiten, die sie vielleicht nicht mögen, wo sie aber Informationen finden oder zumindest die Fragen, die von der Regierung nicht beantwortet werden.“
Das weiß Orban. Er muss darauf bauen, dass Ungarn die Corona-Krise möglichst glimpflich übersteht, denn eine innenpolitische Schwächung kann er sich nicht erlauben. Als Regierungschef des Landes, das nach Polen die meisten Gelder von der EU bezieht, ist bereits sein Konfrontationskurs mit Brüssel ein Drahtseilakt. Erst vor wenigen Tagen drohte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angesichts seiner neuen Befugnisse mit einem Vertragsverletzungsverfahren.