Der sächsische Verfassungsschutz hatte nach Informationen des Tagesspiegels in einer "Lagebewertung" gewarnt, aus ganz Sachsen und anderen Bundesländern würden Rechtsextremisten, Hooligans, rechte Kampfsportler und weitere Angehörige der rechten Szene zu der von einem Rechtsextremisten angemeldeten Demonstration "Sicherheit für Chemnitz" kommen.
Das Tötungsdelikt an einem 35-Jährigen Deutschen "unter Beteiligung von Tatverdächtigen mit Migrationshintergrund bewirkt einen sehr hohen Emotionalisierungsgrad", stehe in dem Papier, welches dem Blatt vorliegt. Aufgrund der flächendeckenden bundesweiten Mobilisierungen und Anreisebekundungen werde "die Teilnehmerzahl im unteren bis mittleren vierstelligen Bereich erwartet", heißt es weiter.
Angriffe von Rechtsextremisten auf den politischen Gegner, die Polizei sowie auf "neuralgische Örtlichkeiten" wie Wahlkampfbüros und Flüchtlingsunterkünfte seien nicht auszuschließen.
Weiterhin meldet der Tagesspiegel, dass die am Montagabend in Chemnitz versammelten Rechtsextremisten aus ganz Sachsen sowie aus Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg, Berlin und weiteren Ländern kamen. Diese Informationen erhielten die Journalisten aus Sicherheitskreisen. Warum die Chemnitzer Polizei trotz der Warnungen des Verfassungsschutzes nicht genügend Kräfte im Einsatz hatte, sei für diesen nicht nachvollziehbar, hieß es.
Bei den Protesten am Montagabend in Chemnitz sind 18 Demonstranten und zwei Polizisten verletzt worden. Das gab die Polizei am Dienstag in einer Einsatzbilanz bekannt. Darüber hinaus gab es 43 Anzeigen unter anderem wegen Körperverletzung (11), Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (10), Landfriedensbruchs (2) und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (3).
Den Angaben zufolge waren 591 Einsatzkräfte aufgeboten. Laut Polizei hatten sich bei der vom rechtspopulistischen Bündnis Pro Chemnitz angemeldeten Demonstration rund 6000 Teilnehmer versammelt. An der von der Links-Partei für das Bündnis Chemnitz nazifrei organisierten Kundgebung hatten danach rund 1500 Menschen teilgenommen.
Entschlossene Reaktion angekündigt
Sachsens Regierung und die Polizeiführung des Landes haben eine entschlossene Reaktion auf die Gewaltexzesse in Chemnitz angekündigt. "Dieses Ereignis, so wie es stattgefunden hat, muss uns alle aufrütteln", sagte Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) am Dienstag in Dresden. "Der sächsische Staat ist handlungsfähig und er handelt. Straftäter auf allen Seiten werden dingfest gemacht". Die Ereignisse von Chemnitz zeigten, dass man im Kampf gegen Rechtsextremismus nicht nachlassen dürfe.
"Wir brauchen einen Ruck in Deutschland, auch in der sächsischen Gesellschaft", beschrieb Kretschmer die Reaktion auf rechte Umtriebe als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es gehe darum, die Mitte der Gesellschaft zu mobilisieren. Für Extremismus sei kein Platz. Bei den Ermittlungen zu Chemnitz erwartet er baldige Ergebnisse.
Auch für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist in einem Rechtsstaat kein Platz für Hetzjagden auf Ausländer. "Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun", sagte die Kanzlerin in Berlin. Außenminister Heiko Maas (SPD) nannte die Ausschreitungen in Chemnitz unerträglich. Innenminister Horst Seehofer (CSU) bot der sächsischen Polizei Hilfe an.
"Alarmierende Bilder"
Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) sprach von alarmierenden Bildern. Zu der Demonstration seien Chaoten und Hooligans aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Thüringen, Berlin und Brandenburg nach Chemnitz gekommen. "Das ist Anlass, die Sicherheitsvorkehrungen zu verschärfen", kündigte Wöller an. Die polizeilichen Maßnahmen in Chemnitz sollten erheblich ausgeweitet werden. "Die eingesetzten Beamten haben einen verdammt guten Job gemacht", sagte der Minister.
Landespolizeipräsident Jürgen Georgie ging auf den Vorwurf ein, die Polizei sei auch am Montag mit zu wenig Personal präsent gewesen. Man habe zwar die ursprüngliche Prognose von 1500 Demonstranten auf beiden Seiten im Laufe des Tages verdoppelt, allerdings seien dann weit mehr Teilnehmer gekommen als geschätzt. Laut Georgie standen rund 600 Polizisten 6000 Menschen auf der Rechten-Demo und 1000 Gegendemonstranten gegenüber.
Kretschmer wurde gefragt, ob die Polizei tatsächlich stets Herr der Lage war. Er sei nicht vor Ort gewesen, sagte der Regierungschef: "Ich sehe das Ergebnis. Das Ergebnis stimmt." Zugleich kündigte er ein entschiedenes Vorgehen gegen Stimmungsmache im Internet an. Die Mobilisierung für Demos im Internet beruhe auf ausländerfeindlichen Kommentaren, auf Falschinformationen und auf Verschwörungstheorien: "Das ist auch Stimmungsmache gegen den Staat und seine Institutionen. Es ist zum Teil ein Angriff auf unsere Wahrheitssysteme."
Kein sexueller Übergriff am Rande des Stadtfestes
Den tödlichen Messerstichen am Rande des Chemnitzer Stadtfestes ist kein sexueller Übergriff auf eine Frau vorausgegangen. Das sagte Landespolizeipräsident Jürgen Georgie am Dienstag. Im Internet hatten entsprechende Gerüchte die Stimmung in Chemnitz angeheizt. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) erklärte, es habe sich nicht bestätigt, dass eine Frau habe geschützt werden sollen und dass es deswegen zu der Straftat gekommen sei.
Georgie sagte, es habe einen Streit zwischen zwei Männergruppen gegeben, in dessen Verlauf schließlich Messer eingesetzt worden seien. Der 35 Jahre alte Deutsche starb, zwei weitere Männer wurden schwer verletzt. Als Tatverdächtige wurden ein 22-jähriger Iraker und ein 23-jähriger Syrer in U-Haft genommen. Diese Tatsache sei "überhaupt kein Grund für eine Generalverdächtigung aller ausländischen Mitbürger", sagte Ministerpräsident Kretschmer. (dpa/shm)
(Dieser Artikel wurde um 14.49 Uhr aktualisiert.)