Mehr als 1200 Anzeigen, 46 Gerichtsverfahren, 33 Verurteilungen: Das sind einige der Zahlen, die von jener Silvesternacht auf der Kölner Domplatte blieben, die seinerzeit die Republik erschütterte und der Stadt einen medialen Tsunami aus aller Welt bescherte. Auch ein mehr als 1300 Seiten starker Bericht über die Ereignisse entstand im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Aber wirklich viel wisse man über damals nicht, meint der Sozialpsychologe und Gewaltforscher Andreas Zick, der mit seinem Team die Kölner Polizei danach begleitete und beriet: „Die Daten des Riesenberichts sind noch gar nicht ausgewertet.“
Zum Jahreswechsel 2015/2016 wurden die wenigen Quadratmeter Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs bis zum Dom über Stunden zum kriminellen Hotspot. Feiernde und Passantinnen wurden beraubt, bestohlen, aber vor allem: massiv sexuell bedrängt, beleidigt, attackiert, begrapscht – bis hin zur Vergewaltigung. Mehr als 500 Anzeigen gingen bei der Polizei wegen sexualisierter Übergriffe ein, aber nur drei Täter wurden auch verurteilt. Die Nacht von Köln rückte in den Tagen nach dem 31. Dezember wegen der besonderen Umstände in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses: Kölns Polizei hatte offenbar nicht ausreichend eingegriffen und zunächst auch nur Routine-Pressemeldungen über die Ereignisse herausgegeben. Die Täter galten rasch als ausgemacht: Junge Männer nichtdeutscher Herkunft – viele betroffene Frauen hatten entsprechende Angaben gemacht.
Gruppendynamiken
Es war das Ende jenes Jahres, indem 890 000 Menschen nach Deutschland geflohen waren, mehr denn je. Es war das Jahr der deutschen Willkommenskultur, und die Frage stand im Raum: Verschweigen die Behörden absichtlich die Schattenseiten der Fluchtmigration? Hatten sich ganze Banden verabredet, zu klauen und Frauen zu demütigen und ihnen Gewalt anzutun?
Die Wirklichkeit war wie immer komplizierter, wie jetzt vier unmittelbar Beteiligte in einem Gespräch auf Einladung des Mediendiensts Integration resümierten. Das galt einmal für die Tätergruppen: Iraker, Syrer, Afghanen waren darunter, aber auch Deutsche, viele aus dem Umland, berichtete Kriminaldirektor Klaus Zimmermann, seinerzeit Leiter der Arbeitsgruppe „Silvesternacht“ der Kölner Polizei. Was dann passierte, erklären Zimmermann wie auch Forscher Zick unter anderem mit Gruppendynamiken und hohem Alkoholkonsum, der auch an Ort und Stelle frei verkauft wurde. Einen „Einbruch von sozialen Normen und Zivilcourage“ nennt Zick es. Zudem konnten die derart enthemmten und aggressiven jungen Männer vermutlich bald bemerken, dass ihr Tun wenig bis keine Konsequenzen hatte.
Behshid Najafi, Leiterin der Kölner Beratungsstelle Agisra und selbst vor drei Jahrzehnten aus dem Iran geflohen, brachte das Dilemma auf den Punkt, als sie über den doppelten Schock dieser Silvesternacht sprach: „Massive sexualisierte Gewalt durch stark alkoholisierte Männermassen und den fehlenden Polizeischutz.“ Das Ergebnis war, so Najafi: „Einerseits wurde das Sexualstrafrecht verschärft, was wir begrüßen.“ Sexuelle Belästigung etwa ist erst seit der Reform im November 2016 ein Straftatbestand. Und, so Najafi weiter: „Auch das Asylrecht wurde verschärft, was wir kritisieren.“
Die Kölner Silvesternacht war nicht nur in dieser Hinsicht ein Einschnitt, der bis heute nachwirkt. Andreas Zick verweist auf den massiven Einbruch der positiven Stimmung Geflüchteten gegenüber, der in Untersuchungen gemessen werden konnte. Der Presserat änderte seine Ethikrichtlinien und erlaubt seither, die Herkunft Verdächtiger oder von Tätern bei „berechtigtem öffentlichen Interesse“ zu nennen, zum folgenden Weihnachtsfest stieg der Waffenverkauf. Silvester 2015 sei „ein Schlüsselereignis für Kriminalitätsberichterstattung“, erläutert Zick.
Die Lehren der berüchtigten Silvesternacht seien allerdings längst nicht so gezogen, wie das nötig wäre, sagt Zick. Bei der Polizei gehe der Prozess weiter, aber als Forscher sei er „frustriert“, dass sein Team und er die Arbeit, die damals begonnen wurde, nicht weitergeführt werde. Nicht nur die Schätze aus dem Abschlussbericht des Landtags seien nicht gehoben, es gebe auch „unglaubliches Videomaterial, etwa 7400 Stunden von Handykameras“. Situationen wie die in Köln entstünden immer wieder, und aus den Daten können man viel lernen für Gewaltprävention den Schutz von Betroffenen und rechtzeitiges Gegensteuern, betont Zick. Zum Beispiel wie man öffentlichen Raum so gestaltet, dass er nicht Gewalt und Straflosigkeit noch begünstigt.