Frau Gitter, die Bundesärztekammer befasst sich vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie mit dem Thema Triage, also einer Auswahl von Patienten nach ihren Überlebenschancen. Heißt das nicht, den Teufel an die Wand malen?
Heidrun Gitter: Wir sehen in anderen Ländern, dass die Zahl der nötigen Intensivbetten die Zahl der Corona-Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf übersteigen kann, zumal auch andere Patienten intensivmedizinisch zu versorgen sind. Für den Fall müssen auch wir gerüstet sein, zumal das Thema nicht neu ist: Danach wird verfahren, wenn es sehr viele Schwerverletzte gibt und die medizinische Versorgung eingeteilt werden muss. Das Ziel einer Triage ist es, möglichst viele Leben zu retten und möglichst wenig Menschen zu schaden.
Triage ist beispielsweise ein Thema, wenn ein Bus mit sehr vielen Passagieren verunglückt ist?
Ja, da könnte diese Frage gestellt werden oder auch bei einer Naturkatastrophe. Wo das Thema routinemäßig und jeden Tag eine Rolle spielt: in den Notaufnahmen, auch in Bremen. Bei mehreren Akut- oder Notfallpatienten wird auch eine Einschätzung und Auswahl getroffen: Wer ist zuerst dran? Wer kann noch etwas warten? In Leitstellen, wo Notrufe eingehen, wird ebenfalls so verfahren. Auch hier muss die Behandlungsbedürftigkeit nach Dringlichkeit einschätzt werden, also entschieden werden, welcher Notarzt im Zweifelsfall wohin zuerst fährt.
Es geht also dabei nicht immer um Leben und Tod.
Im Grunde geht es vor allem um eine Reihenfolge. Aber in bestimmten Situationen muss auch eingeschätzt werden, wie schwer die Verletzungen und wie hoch die Überlebenschancen sind, ob jemand noch zu retten ist. Ob ein Arzt hier richtig ist oder eher jemand, der die Hand hält, also eine palliative Begleitung.
Kann eine solche Entscheidung allein in das Ermessen des Arztes gelegt werden?
Der Arzt muss es entscheiden, aber er muss dazu Kriterien an die Hand bekommen, die ihm die Entscheidung erleichtern. Uns als Bundesärztekammer ist es äußerst wichtig, dass ein objektives und transparentes Verfahren für die Zuteilung von Ressourcen festgelegt wird, das die Gesellschaft mitzutragen bereit ist. Wir kennen ein solches Verfahren bereits, aus der Organzuteilung. Spenderorgane sind knapp, es gibt lange Wartelisten. Das Transplantationsgesetz regelt diese Ressourcenzuteilung gesetzlich. Nach einem umfangreichen Punktesystem wird entschieden, wer wo auf der Warteliste steht.
Für einen Mediziner muss es dennoch ungemein schwierig sein, eine solche Entscheidung zu fällen.
Natürlich, das ist so. Umso wichtiger ist es, dass sich Medizinerinnen und Mediziner sicher fühlen können in ihren Entscheidungen, weil diesen stabile und unmissverständliche Kriterien zugrunde liegen, die sie schützen, falls beispielsweise Angehörige klagen wollen.
Man hat den Eindruck, dass ältere Menschen, falls es zu Triage-Entscheidungen kommt, von vornherein schlechtere Chancen haben.
So ist es definitiv nicht. Das Alter und die Restüberlebenszeit spielen bei der Einschätzung eine Rolle, aber das kann nur ein Kriterium von vielen sein. Es geht auch um den Allgemeinzustand, um die Dringlichkeit und vieles andere mehr. Es ist nicht zulässig, sozusagen diskriminierend zu triagieren. Die Chancen jedes Einzelnen müssen individuell eingeordnet werden. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass vor allem Hochbetagte jederzeit einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Jede Infektion kann tödlich sein. Dennoch wäre es wichtig, zu einer Triage-Regelung zu kommen, die die Bevölkerung mittragen kann und die den Ärztinnen und Ärzten bei ihren Abwägungsentscheidungen Rechtssicherheit verschafft. Wir müssen uns dieser Debatte stellen.
Wie kann man so ein heikles Thema debattieren, ohne womöglich etwas kalt und mitleidslos zu wirken?
In der Vergangenheit gab es bereits solche Debatten, vor dem Hintergrund des Terroranschlags am 11. September 2001 in New York beispielsweise. Die Frage war: Darf man ein entführtes Flugzeug, das ein Ziel mitten in der Stadt ansteuert, quasi vom Himmel holen, wenn man befürchten muss, dass die Zahl der Todesopfer am Boden deutlich höher ist als die Zahl der Passagiere? Die Antwort war eindeutig: Man kann das Leben der Menschen im Flugzeug nicht geringer schätzen. Um im Prinzip ähnliche Fragen bei der Einordnung von einem Massenansturm auf unsere Intensivbetten und -ressourcen zu beantworten, brauchen wir verbindliche Handlungsleitlinien.
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, zu der medizinische Fachgesellschaften wie beispielsweise die Akademie für Ethik in der Medizin zählen, hat ein Papier dazu vorgelegt. Was halten Sie davon?
Aus Sicht der Bundesärztekammer ist das eine Diskussionsgrundlage, kann aber keine verbindliche Handlungsleitlinie sein, die in einem möglichen Konfliktfall von einem Richter nach objektiven Kriterien zu beurteilen ist. Eine Triage-Leitlinie, die ja alle Bürgerinnen und Bürger berührt, sollte durch eine zuständige Instanz wie das Bundesgesundheitsministerium oder auch die Landesgesundheitsbehörden genehmigt sein. Die tatsächliche Entscheidung nach einer solche Leitlinie hingegen ist dann Sache eines verantwortlichen Arztes oder einer Ärztin, am besten aber nach gemeinsamer Beratung in einem Team auch mit Pflegenden und unter Beachtung des Patientenwillens.
Wie kann eine Leitlinie entstehen, wie die Bundesärztekammer sie sich vorstellt?
Es könnte so ähnlich verfahren werden wie bei der Organzuteilung. Dafür haben wir die Richtlinien erstellt, dem Bundesgesundheitsministerium vorgeschlagen, und es hat sie genehmigt. Wir führen bereits intensive Diskussionen, um auch für ein Triage-System so vorzugehen, denn ein solches Verfahren ist zeitintensiv. Auch eine Empfehlung und quasi Festlegung eines medizinisch-wissenschaftlichen Standards über die ärztliche Berufsordnung wäre denkbar.
Wie dringend ist es, Richtlinien zu erarbeiten?
Es gibt schon einen gewissen Zeitdruck, weil niemand weiß, wann und wie hoch die Zahl der sehr schwer an Covid-19 Erkrankten steigen wird. Alle Experten gehen davon aus, dass der Höhepunkt noch nicht erreicht ist. Die derzeitige Großlage zeigt, dass es wichtig ist, auf Ausnahmezustände vorbereitet zu sein. In anderen Staaten gibt es solche Richtlinien bereits. Für vorbildlich halte ich die aus der Schweiz, genannt „Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit“. Diese beruhen auf schon länger bestehenden und stets angepassten Leitlinien zur ethisch basierten medizinischen Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin.
Wie schätzen Sie die medizinische Versorgungslage in der Bundesrepublik ein?
Wir haben in Deutschland enorme Möglichkeiten, die deutlich besser sind als in Italien. Ich glaube, dass wir im Großen und Ganzen gut gerüstet sind und sich niemand Sorgen machen muss, dass er nicht ausreichend versorgt wird. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, noch weitere Beatmungsgeräte anzuschaffen, und es gibt eine überwältigende Welle der Hilfsbereitschaft, ob von Medizinstudenten oder von Fachpersonal, das eigentlich in der Elternzeit ist, in den Krankenhäusern mitzuhelfen. Dennoch kann ich allen, vor allem Risikogruppen, auch nur raten, sich nicht zu gefährden.
. . . und eine Patientenverfügung zu verfassen?
Ja, auch das wäre vor dem Hintergrund der jetzigen Situation hilfreich. Denn der Patientenwille muss bei einem Triage-System ganz oben angesiedelt sein.
Das Gespräch führte Silke Hellwig.
Heidrun Gitter ist seit 2012 Präsidentin der Ärztekammer Bremen, seit 2019 Vizepräsidentin der Bundesärztekammer und leitende Oberärztin Klinik für Kinderchirurgie und -urologie am Klinikum Bremen-Mitte.
Zur Sache: Gewissensfragen für jedermann
Die Covid-19-Richtlinien für die Schweiz sind laut Michelle Salathé, Vize-Generalsekretärin und Leiterin des Ressorts Ethik bei der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW), in der Bevölkerung bislang nicht kontrovers diskutiert worden. Das liege vermutlich auch daran, dass sie zum Glück noch nicht hätten angewendet werden müssen – anders beispielsweise als in Italien.
Allerdings geht die schweizerische Organisation „Ethix – Lab für Innovationethik“ mit einer Umfrage der Akzeptanz bei den Bürgern nach. Das Labor versteht sich als Raum für "interdisziplinäre und partizipative Experimente", die sich vor allem um ethische Fragen drehen. Die Richtlinien, heißt es dort, seien „Anlass für eine breit angelegte ethische Auseinandersetzung mit dem Thema Triage (...) Damit möchten wir dazu beitragen, dass die Schwere der Situation, wie sie in den Schweizer Spitälern bald eintreten könnte, zu größerer Bekanntheit gelangt.“
Wer sich beteiligt, wird vor eine Reihe von Gewissensfragen gestellt. Beispielsweise ob das Alter, der Versicherungsstatus, die Nationalität oder der gesellschaftliche Wert bei Triageentscheidungen eine Rolle spielen sollten. Oder auch: „Stellen Sie sich vor, dass zwei Personen ins Spital kommen, die ein Beatmungsgerät brauchen, aber nur eines steht zur Verfügung. Beide Personen sind 50 Jahre alt. Person A hat zusätzlich noch eine Herzerkrankung. Welche Person sollte das Gerät bekommen?“ Gemeinsam mit der Uni Zürich sollen die Antworten wissenschaftlich ausgewertet werden.